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Vorträge und Publikationen

Carola Meier-Seethaler hat zwischen 1977 und 2022 zahlreiche Artikel verfasst und ab 1988 unzählige Vorträge gehalten. Eine Übersicht über wichtige Texte finden sich in nachfolgender Tabelle.

Zu aktuellen Fragen schrieb Carola Meier-Seethaler auch Kolumnen. Sie können in der untenstehenden Aufzählung angeklickt werden.

Vorträge & Artikel

2019 "Quintessenz: Plädoyer wider die Resignation" in: Quintessenz: Wofür es sich lohnt zu leben, Hrsg. opus-magnum Verlag, Stuttgart, 2020
2019 "Niemals zuvor waren Mütter so isoliert mit ihren Kindern wie heute" in: Sibylle Stillhart: "Schluss mit Gratis! Frauen zwischen Lohn und Arbeit", Limmat Verlag, Zürich.
Gekürzt in: Emma, Ausgabe 5/2020.
2019 "Feminismus: Eine Positionsbestimmung": online auf theoriekritik.ch, 2019.
2018/19 "Susanne Langers neuer Schlüssel zur emotionalen Vernunft" in: IX. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2018/19, hrsg. von Robert J. Kozljanic, Albinea Verlag, München.
2015 "Das Märchen vom ältesten Gewerbe der Welt" in: Emma, September/Oktober 2015.
2013

"Drei unsterbliche Monster: Drache, Sphinx und Greif" in: Spinnenfuss und Krötenbauch, Bd. 16 der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung, hrsg. von Paul Michel, PANO Verlag, Zürich 2013.
PDF der Publikation

2012 "Zum Stand der feministischen Patriarchatskritik" in: Jahrbuch 2012, Denknetz Schweiz, Zürich.
2009 "Paradoxe Suggestionen; Wie die Marktideologie unsere Erziehungsaufgaben durchkreuzt" in: Christine Meier Rey (Hrsg.), Schwierige Zeiten - schwierige Kinder, Haupt, Bern.
2008 "Das Böse als Produkt gescheiterter menschlicher Sinnsuche in: Werner Faulstich, Hrsg. "Das Böse heute", Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
2008 "Leben ohne Dogma" in: "frei denken", Magazin der Freidenker-Vereinigung Schweiz, 3000 Bern, Jubiläumsausgabe.
2007 "Die Straussenfeder der Ma'at" in: Spirale der Zeit; Frauengeschichte sichtbar machen, Budrig-Verlag, Leverkusen Opladen.
2006 "Sterben in Würde" in: Exit info 4/2006, Zürich.
2003 "Polarisierende Symbolstrukturen als Wegbereiter des Fundamentalismus" in: U. Mäder/ H. Saner (Hrsg.), Realismus der Utopie; Zur politischen Philosophie von Arnold Künzli.
2002 "Mit der Erfüllung des Liebesgebots könnte die Erde reich sein", Gespräch mit der Redaktion "Neue Wege", Zeitschrift des religiösen Sozialismus Nr. 4/2002, Zürich.
2002 "Gefühl und Urteilskraft. Zum Begriff der emotionalen Vernunft" in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Gibt es Grenzen der Vernunft? Interdisziplinäre Forschungen Bd. II, Studienverlag.
2000 "Macht im Spannungsfeld zwischen Kompetenz und Gewalt" in: B. Buchheim/M. Cierpka (Hrsg.), Macht und Abhängigkeit, Lindauer Texte, Srpinger Berlin.
2000 "Emotionale Vernunft aus feministischer Sicht" in: studia philosophica Vol. 50, Bern
2000 "Der Begriff der Wertfreiheit in der Wissenschaft im Zusammenhang mit der Verbannung der Emotionen aus dem wissenschaftlichen Diskurs" in: Peter-Alexander Möller (Hrsg.), Verantwortung und Ökonomie in der Heilkunde, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften 2000.
1997 Mythen zur Geschlechterhierarchie in: Berner Universitätsschriften "Form und Funktion des Mythos in archaischen und modernen Gesellschaften, Haupt Verlag, Bern 1997.
1994 Heller, Agnes: ungarisch-amerikanische Philosophin. Eintrag in: Philosophinnen Lexikon Bd. 2, hrsg. von Ursula I. Mayer, ein-FACH-verlag, Aachen 1994.
1994 "Hat Kreativität ein Geschlecht?" in: Künstlerpaare, Kunstpreis der Stadt Jena.
1991 "Solidarität und Rivalität aus kultur- und entwicklungspsychologischer Sicht" in: Loccumer Protokolle Rivalität-Solidarität.
1991 "Geschlecht und Kultur" in: WAP, Wildunger Arbeitskreis für Psychotherapie: Wertewandel in einer sich wandelnden Welt.
1990 "Ursprünge weiblicher und männlicher Weltsicht". Vortrag am öffentlichen Symposium "Wissenschaft, Künste und alles andere", Basel 1990.
Link zu Sozialrchiv "Wissenschaft, Künste + alles andere" (1990) (Video)
1989 "Wachsen unter der Oberfläche. Zur Situation der Frau in der Schweiz" in: Suchbild Schweiz, Zytglogge Bern
1980 "Das Kind: Erich Neumanns Beitrag zur Psychopathologie des Kindes" in: Kreativität des Unbewussten, Festschrift zum 75. Geburtstag Erich Neumanns (1905-1960), Karger Verlag, Basel 1980.
1978 "Vom Mut zur Veränderung des Herzens", abgedruckt in: Adelbert Reif: Erich Fromm, Materialien zu seinem Werk, S. 266-275, Europaverlag 1978.ru
1977 "Vom Mut zur Veränderung des Herzens". Zu Erich Fromms "Haben oder Sein" in: Letzte Ausgabe der Nationalzeitung am Wochenende, Samstag, 29.01.1977, Seite 1.

Verwechslung von Ideologiekritik und Ideologie

[27.10.2019]

Anlässlich der grünen und grünroten Welle ertönt häufig die Mahnung: Klimapolitik ja, aber nicht zulasten der Wirtschaftspolitik. Der Aufruf zum Systemwechsel sei ideologieverdächtig. Dabei geht vergessen, dass die Berufung auf die uneingeschränkt freie Marktwirtschaft selbst auf einer irrationalen Ideologie beruht; nämlich auf der Illusion der "unsichtbaren Hand des Marktes", die am sichersten das Allgemeinwohl garantiere.
Spätestens seit Hans Christoph Binswanger wissen wir, dass für Adam Smith als dem Begründer des Wirtschaftsliberalismus diese unsichtbare Hand die Hand Gottes war, die letztlich zum Wohle aller führt, wenn die Wirtschaftsakteure selbst nur die eigene Profitmaximierung verfolgen. Zudem hielt Smith die Ressourcen der Natur noch für unerschöpflich. Die Realität beweist längst das Gegenteil: Weltweit werden die Ungleichheit und das Elend der vor Armut und Klimanotstand Flüchtenden immer grösser.
Eine grundlegende Kurskorrektur ist also unumgänglich, was nicht zu neuen Ideologien führen muss. Wohl aber zu der Einsicht, dass die Eindämmung der Umweltzerstörung und die Herstellung sozialen Ausgleichs ohne die demokratische Mitsprache auf allen politischen Ebenen nicht zu lösen ist, während die Prioritätsansprüche der internationalen  Konzerne die demokratischen Grundrechte aushebeln.

Feminismus: Eine Positionsbestimmung

[22.01.2019]

Matriarchatstheorie und feministische Geschlechterforschung: Eine Positionsbestimmung
Die Verortung meiner Position beginnt mit einer sprachlichen Differenz bei der Begriffsbildung. Ich spreche nicht von «Matriarchat» oder matriarchaler Kultur, sondern sehr bewusst von «matrizentrischen» Kulturen, und zwar aus folgenden Gründen:

Umgangssprachlich wird unter Begriffen in Kombination mit dem griechischen Wort «arché» eine Form von Herrschaft verstanden. So bei «Monarchie» als Herrschaft eines Einzelnen, bei «Plutokratie als Herrschaft der Reichen», «Oligarchie» als Herrschaft der Wenigen oder «Aristokratie» als Herrschaft einer privilegierten Adelsschicht.

Dennoch ist es richtig, wie Matriarchatsforscherinnen betonen, dass das griechische Wort arché ursprünglich die Bedeutung von «Anfang, Beginn, Ursprung» hatte, die bis heute in den Wortbildungen «Archäologie» als Altertumswissenschaft oder im Ausdruck «Archetypen» für die Urbilder der Seele nachklingt. Doch schon im klassischen Griechenland nahm der Ausdruck «arché» die politische Färbung von Herrschaft an: So beim Verbum «archo» für «gebieten» und «archon» für «der Erste sein, Führer sein.

Eine solche Differenzierung halte ich für nötig, weil sonst das verbreitete Missverständnis um sich greifen kann, bei Matriarchaten handle es sich um «Frauenherrschaft». Dabei ist dies schon als Wortzusammensetzung ein Widerspruch in sich, denn Herrschaft meint ja die Dominanz der «Herren».

Bevor ich die spezifischen Merkmale matrizentrischer Strukturen aus meiner Sicht darstelle, möchte ich über meine Motivation sprechen, die mich antrieb, solche Kulturen der Früh- bzw. Vorgeschichte wie auch die Reste indigener Völker mit vorpatriarchalen Gesellschaftsformen zu studieren.

Es war nicht in erster Linie ein emanzipatorischer Impuls als Frau, wenngleich ich die zweite Frauenbewegung immer aktiv mitverfolgte. Brennender war für mich die Frage nach dem Ursprung gewaltsamer Unterdrückung und die Entstehung und Verherrlichung von Kriegen: Handelt es sich beim patriarchalen Herrschaftssystem wirklich um eine Urtatsache der Menschheitsgeschichte, wie uns die meisten Historiker, Theologen und Soziologen glauben machten? Und ist der (!) Mensch tatsächlich von Natur aus herrschsüchtig, gewaltbereit und grausam?

Entscheidende Anstösse waren für mich die Theorien von Konrad Lorenz und, ganz besonders, Erich Fromms Werk «Die Anatomie der menschlichen Destruktivität».

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist eine Anlage zur Gewaltbereitschaft auch beim Menschen unverkennbar. Doch während bei unseren tierischen Vorfahren aggressives Verhalten notgedrungen der Lebenserhaltung dient oder eine Rangordnung in der Gruppe im Blick auf das Paarungsverhalten herstellt, geht die menschliche Aggressivität weit darüber hinaus.

Destruktivität als Selbstzweck, Grausamkeit und sadistische Erniedrigung setzen das Reflexionsvermögen des menschlichen Bewusstseins voraus. Dabei erweist sich das hoch entwickelte Selbstbewusstsein als Janusgesichtiges Geschenk der Evolution: Auf der einen Seite befähigt es zu höchsten geistigen Leistungen, auf der anderen Seite kann es zur Perversion der Einfühlungsgabe in zielgenaue Demütigung führen.

Die Basis für diese Ambivalenz besteht nach Fromm in der existentiellen Situation des Menschseins als solcher. Nur der Mensch weiss um seine Sterblichkeit und fällt damit aus der fraglosen Einheit mit der Natur heraus. Er muss sich die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach der eigenen Rolle innerhalb des begrenzten Lebens stellen. Findet er darauf keine Antwort - wie sie Mythologien und Religionen zu geben versuchen -, fühlt er sich verzweifelt und ohnmächtig. Eine Möglichkeit, diesem subjektiven Elend zu entrinnen, sieht Fromm im destruktiven Verhalten: Destruktivität als die Verwandlung von Ohnmacht in scheinbare Allmacht (E. Fromm, Gesamtausgabe, Bd.7, S.263). In diesem Sinn ist der menschliche Zerstörungstrieb kein Ausdruck von Stärke, vielmehr ein kompensatorischer Ausbruchsversuch aus Frustration und Hoffnungslosigkeit: Destruktivität als Ausdruck von Schwäche.

Im Anschluss daran stellte sich mir unausweichlich die Frage, warum, historisch gesehen, der männliche Teil der Menschheit so viel stärker zur Destruktivität neigt als der weibliche.

1. Erkenntnisse aus der Ethnologie

Eine erste Annäherung zur Aufklärung dieser Tatsache brachten ethnologische Forschungen. Sie zeigen, dass das patriarchale Muster von Machtstreben nach Innen und Aussen, von Krieg und Unterwerfung kein universales Phänomen darstellt. Vielmehr existieren bis heute so genannt akephale Gesellschaften, die nicht hierarchisch strukturiert sind und kriegerische Auseinandersetzungen vermeiden. In einem jüngsten Werk zur Geschichte des Krieges ist die Rede von 70 friedfertigen Ethnien, die bewusst auf Gewaltanwendung verzichten und in geographischen Rückzugsgebieten leben (A. Eich 2015, S. 38ff). Das berechtigt zur Annahme, dass sie älter sind als kriegerische Völker (von denen sie vermutlich verdrängt wurden).

Bemerkenswert ist, dass solche Ethnien auch ohne das Gewaltmonopol einer Führungsmacht wohl geordnete Gemeinschaften bilden, und beide Geschlechter eine gleichberechtigte Stellung einnehmen, sei es als Dorfälteste(r) oder in Ausübung religiös-ritueller Praktiken.

Dazu kommt, dass in 13 Prozent solch egalitärer Gemeinschaften die matrilineare Abstammungsrechnung gilt, darunter die 3 Millionen zählende Volksgruppe der Minangkabau auf Sumatra. Matrilinearität bedeutet, dass die Abstammung der Nachkommen ausschliesslich in der mütterlichen Linie wahrgenommen wird (Unilinearität), während die Bedeutung des leiblichen Vaters gering ist, der nur mit seinem eigenen mütterlichen Herkunftsclan, nicht aber mit seinen Kindern als verwandt gilt. Falls dauerhafte Paarbildungen bestehen - neben der Form der «Besuchsehe» - wird Matrilokalität praktiziert, das heisst, der Ehemann zieht in den Clan der Frau. Töchter und Söhne erben den Familiennamen der Mutter, die Töchter auch deren Besitz und deren soziale und rituelle Funktionen innerhalb des Clans. Für die Erziehung der Söhne sind die Mutterbrüder zuständig, die ihre Erfahrungen und ihren Besitz an die Schwestersöhne weitergeben.

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Übergängen im Deszendenzsystem, sei es in Richtung der bilinearen Abstammung von Mutter und Vater, sei es die virilokale Eheresidenz, wenn aus arbeitstechnischen Gründen die Zusammenarbeit der Männer gefragt ist. Dabei zieht die Braut in den Matriclan des Mannes, was die matrilineare Verwandtschaftsrechnung aber nicht aufhebt. Dagegen setzt Patrilokalität die patrilineare Erbfolge bereits voraus. Eine Besonderheit bildet das so genannte Avunkulat, bei dem der Mutterbruder den Sohn der Schwester bei sich aufnimmt, wenn er selbst in einem anderen Clan lebt. Jedenfalls aber lässt sich die Entwicklungslinie eindeutig von matrizentrisch-egalitären zu patriarchal-hierarchischen Verhältnissen bestimmen.

Das eindrucksvollste Beispiel für das hohe Alter friedlicher und egalitärer Ethnien sind die San im südlichen Afrika, die als «Buschleute» von den weissen Kolonisatoren verachtet und nahezu ausgerottet worden waren. Heute wissen wir, dass sie einst weite Teile Afrikas als Sammlerinnen und Jäger bevölkerten und grossartige Felsbilder hinterliessen. Diese Kunst ging verloren, doch konnten sie viele ihrer alten Traditionen bis heute bewahren. Durch Uno-Beschluss wurde ihnen wieder eigenes Land zugesprochen, auf dem sie nach eigenen Regeln leben. Genetische Forschungen belegen, dass die Khoi-San das älteste Volk des Homo sapiens darstellen, das heute noch lebt, und ihre Existenz bis 44‘000 Jahre v.u.Z. zurückreicht. Bemerkenswert sind die äusserst klugen Regeln für ein friedliches Zusammenleben und die völlig gleichberechtigte Stellung der Frauen. Auch erhielten sich Reste matrilinearer Strukturen in Form matrilokaler Eheresidenzen und in der Sitte, dass ein Schwester-Bruderpaar als Dorfälteste für die Einhaltung komplizierter Rituale und für friedliche Konfliktlösungen zuständig sind (M. Biesele 1986).

2. Religionswissenschaftliche Erkenntnisse

Neben den Ergebnissen der Ethnologie führen religionswissenschaftliche Erkenntnisse auf die Spuren vorpatriarchaler Religionen, wenn diese auch lange Zeit vom Mainstream der Gelehrten ignoriert oder verdrängt wurden.

Nach frühen Missionarsberichten aus Südamerika über die Bedeutung der Göttin Pachamama erregte Bachofens Wiederentdeckung matrizentrischer Religiosität und matrilinearer Deszendenz grosses Aufsehen. Dem folgten die Berichte des Ethnologen L.H. Morgan über die «Urgesellschaft» anhand der Indianer Nordamerikas, die mythologischen Studien von Ranke-Graves und Erich Neumann, sowie das Standardwerk «The Mothers» von Robert Briffault, das Erich Fromm eingehend würdigte.

Schliesslich schöpften die feministische Matriarchatsforschung und die feministische Theologie ab Ende der 1960er Jahre aus allen diesen Quellen und darüber hinaus aus den neuesten Ergebnissen der archäologischen Forschung.

Aus all diesen Studien ergibt sich das Fazit, dass der patriarchale Götterhimmel ein relativ spätes kulturgeschichtliches Phänomen darstellt, dem weltweit die Verehrung grosser Göttinnen vorausging. Es war die Magna Mater, aus deren Schoss alle Gestalten des Kosmos und der Erde entsprangen; sie war die Mutter alles Lebendigen, und männliche Götter waren ihre Söhne.

Wir kennen mehrere hundert Namen der Grossen Göttin aus dem Alten Ägypten und ganz Afrika, aus Mesopotamien, Kleinasien und Indien bis nach Südostasien und Japan, und ebenso aus Australien und Südamerika. Diese Tatsachen zu ignorieren, lässt sich nur als ideologischer Widerstand erklären nach dem Motto: «Weil nicht sein kann, was nicht sein darf».

Hingegen wird vom Mainstream nicht bestritten, dass im Zuge der Patriarchalisierung die mehr oder weniger gewaltsame Ablösung alter Glaubensvorstellungen stattfand. Dabei verfolgte man verschiedene Strategien. Zum einen wurden grosse Göttinnen zum Inbegriff des Bösen dämonisiert und deshalb vernichtet; ein Schicksal, das die griechische Medusa mit der babylonischen Tiamat teilt. Medusa wurde von Perseus, dem Sohn des Zeus, Tiamat vom jungen Hochgott Marduk niedergestreckt.

Eine zweite, raffiniertere Methode war die Zurückstufung ehemals grosser Göttinnen zu Ehefrauen oder Töchtern der neuen männlichen Götter (wie Hera zur Frau und Athene zur Tochter des Zeus) Auch die Verdrängung von Göttinnen durch männliche Heroen und Halbgötter (wie Hygieia durch Aeskulap) oder ihre Umdeutung in christliche Heilige gehört zu dieser Strategie. Bekanntlich wurden unzählige heidnische Quellen- und Bergheiligtümer zu Orten der christlichen Marienverehrung oder anderer christlicher Heiliger umgestaltet.

3. Die archäologischen Funde

Seit der Entdeckung der «Venus von Willendorf» im Jahre 1908, einer ca. 30’000 Jahre alten Frauenfigur mit starker Betonung von Brüsten und Bauch, wurden Tausende von so genannten Frauenidolen gefunden. Erst kürzlich entdeckte man die bisher älteste Frauenfigur: Die «Venus vom Hohle Fels» mit einem Alter von 35-40’000 Jahren (N. J. Conard 2009).

In allen Zeitabschnitten der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum), besonders aus dem Gravéttien, sind in Mitteleuropa und Russland füllige Frauenfiguren mit angedeuteter Schwangerschaft bekannt, im anschliessenden Magdalénien auch stark stilisierte Figuren und Felsritzungen. In der Jungsteinzeit (Neolithikum) zwischen 10’000 und 3000 v.u.Z. gibt es eine riesige Vielfalt an Frauenfiguren in allen Teilen Europas, Kleinasiens und Indiens: Solche mit Betonung der Gebärfähigkeit oder auch äusserst reduzierte Violin- und Brettidole sowie Gefässfiguren mit Brüsten. An sakralen Orten fanden sich zudem eine Fülle von Figürchen, die als Schutz gebende Anhänger oder als Opfergaben von Adoranten interpretiert werden können.

Dagegen sind männliche Idole bis und mit den jungsteinzeitlichen Dorf- und Stadtkulturen äusserst selten. Unübersehbar sind jedoch die Göttinnen von Catal Hüyük, auf Zypern und im Alten Kreta, wo es zum Teil einen nahtlosen Übergang von stark stilisierten Idolen zu lebensnahen Darstellungen von Göttinnen gibt. Marija Gimbutas dokumentierte die Überfülle von weiblich sakralen Plastiken und von wenigen prominenten männlichen Figuren bei den Donaukulturen des Alten Europa im Zeitraum von 6500 bis 3500 vor unserer Zeitrechnung (M. Gimbutas 1991).

Ich halte die archäologischen Funde als sichtbare Zeichen dafür, welch enorme Bedeutung die weibliche Gebärfähigkeit und die Ernährung des Geborenen an der Mutterbrust für alle frühen menschlichen Gemeinschaften hatte. Dies umso mehr, als das zu früh geborene Menschenkind während seiner von Adolf Portmann so genannten «extrauterinen Embryonalzeit» (A. Portmann 1944) einer langdauernden intensiven Zuwendung bedarf. Im Gegensatz zum modernen Begriff der «Reproduktion» war Mutterschaft ursprünglich mit Produktivität schlechthin assoziiert.

Die Leugnung matrizentrischer Frühkulturen, wie sie heute noch vertreten wird, spricht in meinen Augen nur für deren Unverdaulichkeit für eine patriarchal geprägte Gesellschaftstheorie. Die Behauptung, der Mann sei von Natur aus das in jeder Hinsicht überlegene Geschlecht verträgt sich jedoch nicht mit der Tatsache einer gewaltsamen Unterdrückung der Frau und der bis heute weltweit vorherrschenden Frauenfeindlichkeit. Genuin starke Männer hätten es weder nötig gehabt, Frauen gewaltsam zu diskriminieren, noch ihre eigene Herrschaft ideologisch zu rechtfertigen.

4. Die Erfindung des Patriarchats

Die bekannte amerikanische Historikerin Gerda Lerner sprach sehr bewusst von «The Creation of Patriarchy» (1986) und nicht, wie in der deutschen Übersetzung, von dessen Entstehung. Damit will sie ausdrücken, dass die Patriarchalisierung der frühen Hochkulturen keine zwangsläufige Entwicklung gewesen ist, sondern mit Gewalt und mit bewusst konstruierten, philosophisch-theologischen Ideologien errichtet wurde. Lerners historische Studien zu den mesopotamischen Stadtstaaten des vierten Jahrtausends v.u.Z. und den babylonisch-assyrischen Grossreichen bis ins zweite Jahrtausend v.u.Z. zeigen zudem, dass dieser komplexe Prozess rund 2500 Jahre beanspruchte, um die patriarchale Herrschaft nicht nur auf familiärer und staatlicher, sondern auch auf religiös-weltanschaulicher Ebene voll zu etablieren.

Die Voraussetzung bzw. der erste Schritt dazu bestand in der Durchsetzung des patrilinearen Sippensystems, das männliche Dominanz erst ermöglichte. Aktuell wurde dies seit den Errungenschaften von Ackerbau und Viehzucht zu Beginn des Neolithikums. Erst die systematische Tierzucht machte die Rolle des Mannes bei der Zeugung offensichtlich. Bis dahin war sie deshalb unklar, weil Frauen während ihrer langen Stillzeiten aufgrund der Ovulationshemmung trotz des Geschlechtsverkehrs nicht schwanger wurden.
Mit der Sesshaftigkeit, und vermutlich aufgrund der neuen Ernährungsgrundlage, verlor sich diese natürliche Geburtenregelung. Deshalb nahm die Bevölkerung in den folgenden Jahrtausenden stark zu.

Als Rinderzüchter identifizierte sich der Mann mit dem Stier und dessen Zeugungskraft, was sein Selbstbewusstsein steigerte und sich auch in der religiösen Symbolik spiegelte. So tritt in Catal Hüyük der Stier in Wandbildern und in Form von Bukranien (Stierhornreihen) als männlich-göttliches Prinzip in Erscheinung, und im Heiligtum von Patra/Rumänien befindet sich an der Seite der grossen Göttin ein Gott mit Stierkopf (M. Wullschleger, 2008, S. 18 und 41). Doch bleibt dieser Stiergott zweitrangig als Paredros, d.h. als Begleiter oder, wörtlich, als Beisitzer der Göttin.

Zur alteuropäischen Donaukultur gehörten die nach Art ihrer Keramik so genannten Bandkeramiker, die sich aufgrund der Bevölkerungsdichte genötigt sahen, neue Weideplätze für ihre Tierzucht und neue Böden für ihre Agrarwirtschaft zu suchen. So kam es ab 5500 v.u.Z. zu den ersten grossen Wanderungen vom Balkan aus über Österreich nach Süddeutschland, Frankreich und Nordeuropa. Weil sie sich auf Ebenen oder gerodeten Böden ansiedelten, während die indigenen Sammlerinnen und Jäger in den Wäldern lebten, war ein friedliches Nebeneinander möglich. Die von den Bandkeramikern erbauten Langhäuser, jeweils mehrere an einem Ort, legen matrilineare Sippenstrukturen nahe, welche die strikte Exogamie ermöglichten (G. Bott, 2014, S. 143ff und 54 ff.)

Auf den langen Wanderungen schwand der Einfluss der Frauen, die jeweils neu mit ihren Pflanzungen beginnen mussten; dagegen stieg die Bedeutung der Rinderhirten, die ihre Steinäxte auch als Waffe benutzen konnten. Tatsächlich verübten diese die erste kollektive Gewalttat der europäischen Geschichte mit dem Massaker von Talheim um 4900 v.u.Z., bei dem Bandkeramiker eine Gruppe von 34 Personen (vermutlich andere, bereits sesshafte Bandkeramiker) hinterrücks überfielen und erschlugen.

Das war noch keine Kriegshandlung, sondern möglicherweise eine in grosser Not begangene Verzweiflungstat, um an die Vorräte der Überfallenen zu gelangen. Dabei ist festzuhalten, dass solche Gewalttaten Ausnahmeerscheinungen darstellen, und dass es während der gesamten jüngeren Altsteinzeit bis zur Mitte der Jungsteinzeit keinen einzigen Hinweis auf kriegerische Handlungen gibt (G. Bott 2014, S.171; A. Eich, 2015, S.71).

Wie es zur patrilinearen Deszendenz im Laufe der zweiten Hälfte des Neolithikums kam, liegt im Dunkeln. Plausibel aber ist, dass es das Bedürfnis der Männer gab, ihre Vaterschaft offiziell anerkannt zu sehen und ihren Besitz an ihre Söhne zu vererben. Da aber Vaterschaft immer unsicher blieb, setzten sie alles daran, die weibliche Sexualität unter ihre Kontrolle zu bringen. Das gelang mit der männlich dominierten «Paarungsehe» (G. Bott, 2009, S.31-44) und mit der Bildung von Kernfamilien - Mütter, Väter und deren Kinder. Dies führte zur Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern und schliesslich zu ihrer Entmündigung.

Bevor die patriarchale Kriegsmentalität einsetzte, gab es bereits Stammesfehden in vorstaatlichen Verhältnissen, die zwar nur eine begrenzte Anzahl von Getöteten forderten, aber bereits Männerbünde voraussetzen. Wie Armin Eich (2015, Kap.6) ausführlich darlegt, sind dafür die Initiationsriten der Knaben beispielhaft, durch die sie zu Männern gemacht und in deren Kreis aufgenommen werden. Dabei zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wie wenig gewaltbereit die Knaben von sich aus sind; vielmehr macht man ihnen Angst und fügt ihnen auf grausame Art Schmerzen zu, um ihnen die Bereitschaft, zu töten, einzuprügeln. Angesichts dieser Tatsache wäre m. E. die Reihenfolge von Sadismus-Masochismus umzukehren und von Masoch-Sadismus zu sprechen. Auch ist der schmerzliche Eintritt in den Männerbund immer mit der strikten Abgrenzung von den Müttern verbunden: So wurde ihnen beigebracht, lieber «die Ersten im Tode als die Zweiten im Leben zu sein» (C. Meier-Seethaler, 2011, S. 367). Ein eindrückliches Beispiel dafür sind die Kopfjäger-Mythen aus Neuguinea, wie sie Brigitte Hauser-Schäublin (1977) beschrieben hat.

Von eigentlichen Kriegen kann erst die Rede sein, wenn sie von systematisch ausgebildeten Waffenträgern und deren Befehlshabern zu Eroberungszwecken in Szene gesetzt werden. Die materielle Voraussetzung dafür war der Bergbau mit der Gewinnung von Kupfer, Zinn und später Eisen zur Herstellung immer bedrohlicherer Waffen.

Die ersten belegten Eroberungszüge führten zu Beginn des 4. Jahrtausends v.u.Z. die Sumerer durch, als sie im südlichen Mesopotamien die Dörfer und Städte der hochentwickelten Ubeid-Kultur überrannten. Die räumliche und sprachliche Herkunft der Sumerer ist bis heute ungeklärt, doch gelten sie als Erfinder der ersten Schrift, der Keilschrift auf Tontafeln.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Ubeid-Kultur ab 5000 v.u.Z. vieles vorwegnahm, was die Sumerer später vollendeten: Bewässerungskanäle für ihre Landwirtschaft, Kultstätten und eine Art kollektiver Tempelwirtschaft. Auch erinnert ihre hoch qualifizierte Keramik an die ungefähr gleichzeitige Halaf-Kultur in Nordmesopotamien, bei deren Ausgrabung weibliche Sakralfiguren in fülliger Gestalt ans Licht kamen. So wäre es naheliegend, matrizentrische Rituale auch für die Ubeid- Kultur anzunehmen. Diese Rituale wurden von den Sumerern übernommen.

Für die sumerischen Eroberer war es ein Leichtes, die unbefestigten Siedlungen in Südmesopotamien gewaltsam zu besetzen, nachdem sie mit ihren Streitwagen, die von Onagern, also gezähmten Eseln, gezogen wurden, und ihren Kupferäxten sowie einer Armee von Bogenschützen eingefallen waren. Im 4. und 3. Jahrtausend v.u.Z. bauten die sumerischen Könige die Städte Ur, Uruk, Kisch, Lagasch, Umma und Mari zu Stadtstaaten aus. Den ursprünglich kollektiven Tempelbesitz verwandelten sie in ihren persönlichen Machtbereich, in dem die priesterliche Leitung mit profaner Herrschaft zusammenfiel.

Aus den Königsgräbern von Ur geht hervor, dass sich die sumerischen Könige als göttliche Wesen verehren liessen, wobei es sich bei den Königinnen um Hohepriesterinnen handelt. Letztere galten als Stellvertreterinnen der Grossen Göttin Inanna, und sie spielten im Kult der Heiligen Hochzeit eine tragende Rolle. Dieses im Zikkurat-Tempel stattfindende Ritual wies dem König oder Fürsten («lugal» genannt) die Rolle des von der Göttin erwählten Paredros zu, und dessen Vereinigung mit ihr wurde symbolisch vollzogen durch den Akt mit der Hohepriesterin als ihrer Stellvertreterin. Selbst als bereits eine Veränderung des Kulttextes insofern erfolgt war, als die Priesterin nun den herrschenden König als den Ersehnten und aktiv Handelnden pries, blieb das Ritual noch viele Jahrhunderte erhalten zur Rechtfertigung und Besiegelung der königlichen Würde. Dies selbst nach der Ablösung der Sumerer durch die Semiten und ihrer babylonischen Reichsgründung. Schliesslich schaffte erst Hammurabi im 18. Jahrhundert v.u. Z. das Amt der Hohepriesterin ab.

Das Gilgamesch-Epos, benannt nach dem König von Uruk (ab 2700 v.u.Z.) entstand erst 1500 Jahre danach, um 1.100 v.u.Z. durch einen babylonischen Priester, der dessen Entstehung fälschlicherweise zurückdatierte. Zur selben Zeit entstand das Enuma Elish, das Marduk-Schöpfungs-Epos, das schildert, wie Marduk die Ur-Mutter Tiamat erschlägt und zerstückelt (G. Bott, Die Erfindung der Götter Bd. II, S. 206). Immerhin benötigt er noch den in zwei Teile geschnittenen toten Leib der Göttin, um daraus Himmel und Erde zu schaffen, während der jüdische Schöpfergott allein mit seinen Worten den Kosmos erschuf (E. Fromm, 1933, S.67 und 71f.).

Das im Sinne einer politischen Theologie konstruierte Gilgamesch-Epos gibt uns einen Eindruck davon, wie sich der Übergang der matrizentrischen Religion zur frauenfeindlichen patriarchalen Religion vollzog. Nun wird aus der sumerischen Göttin Inanna, die als kosmische Muttergöttin das Leben gibt, und in der Unterwelt den individuellen Tod zu neuem Leben erweckt, die babylonische Ishtar, die Gilgamesch als treuloses, Männer verschleissendes und kriegslüsternes Weib verleumdet. Damit soll die Ablösung von matrizentrischer Religiosität und die Hinwendung zur allmächtigen, schöpferischen Vatergottheit gerechtfertigt werden (G. Bott 2009, S. 484-486).

Für solche Geschichtsklitterungen und mythologische Umdeutungen gibt es Parallelen sowohl im Alten Ägypten (G. Bott, 2009 S.398-450) als auch in Indien, China und bei den Azteken in Südamerika. Deshalb bezeichnete ich in meinem Buch „Ursprünge und Befreiungen“ die „Lüge als Zwillingsbruder der Herrschaft“ (C. Meier-Seethaler, 2011, S. 276ff).
Im Laufe des dritten und zweiten Jahrtausends v.u.Z. drückte die Elite der Sumerer der Weltgeschichte den Stempel brutaler patriarchaler Herrschaft auf: Es kam zum vernichtenden Rivalitätskampf zwischen einzelnen Stadtstaaten und zu den abscheulichen Triumphgesten der Sieger über die Besiegten. So die „Geierstele von Lagasch“ 2450 v.u.Z., bei der sich Geier auf die Leichen gefallener Feinde stürzen. Später übertrafen die Assyrer die kriegerischen Grausamkeiten der Sumerer und Babylonier noch erheblich.
Gleichzeitig wurde eine bis dahin beispiellose Sklaverei über die unterlegene Bevölkerung errichtet, der man alle „niedrigen“ Arbeiten zur Lebensversorgung aufbürdete, und dabei erlitten die Sklavinnen eine doppelte Demütigung: Sie waren nicht nur die persönlichen Dienerinnen der im Luxus lebenden Elite, sondern wurden von den Herren auch als Sexobjekte missbraucht (G. Lerner, 1991, S.112-119). So entstand eine Klassengesellschaft und wenig später die Einrichtung von Bordellen, an die mittellose Bauerntöchter von ihren Vätern oder Slavinnen von ihren Herren verkauft wurden (G. Lerner, 1991, S.172-174).

Einzelne Frauen der Elite erreichten hohe gesellschaftliche Stellungen und zeichneten sich durch eigene geistige Leistungen aus. Von Mari sind Priesterinnen, Schriftgelehrte und Musikerinnen bekannt, doch standen sie alle in Abhängigkeit von ihren Vätern oder Ehemännern, so wie beispielsweise die berühmte Hohepriesterin und Dichterin Enheduanna (Tochter des Königs Sargon von Akkad).

5. Der Mann, das andere Geschlecht

Meine zentrale These ist, dass die Selbsterhöhung des Mannes die Kompensation für seine ursprüngliche Zweitrangigkeit darstellt.
Ursprünglich war die Fähigkeit der Frau, Leben hervorzubringen und mit dem eigenen Körper zu ernähren, für das Weiterleben der Gruppe von entscheidender Bedeutung. Dabei konnten sich die Frauen mit der Mutter Erde, mit all ihrem Wachstum und mit den weiblichen Tieren verbunden fühlen, was die Bewunderung und zugleich den Neid der Männer hervorrufen musste. Das zeigt sich ganz offen in frühen Gesellschaften, die sich über die Art der Zeugung nicht im Klaren waren. Unter anderem in den Ritualen der Couvade, einer Art sympathetischer Schwangerschaft, bei der Männer sich symbolisch ins Kindbett legen, Gebärschmerzen simulieren und sich auf diese Weise dem Zustand der Gebärenden angleichen.
Bruno Bettelheim schildert darüber hinaus weniger bekannte Riten aus Australien und den ozeanischen Inseln, die im Zusammenhang mit männlichen Initiationsriten auftreten. Bei der so genannten Subinzision wird den jungen Männern ein Schnitt an der Unterseite des Penis beigebracht, um damit eine starke Blutung auszulösen. Wenn australische Stämme und solche aus Neuguinea dafür in ihrer Sprache Worte verwenden, die „Vulva“ oder „männliche Menstruation“ bedeuten, so stellt dies eine offensichtliche Parallele zur weiblichen Menstruation dar. Die weibliche Erstblutung gilt ihnen ja als die Voraussetzung für Schwangerschaft und Geburten (Bruno Bettelheim: Die symbolischen Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes (1975, S. 141f).

Neben Bettelheim sprechen Ethnologinnen wie Margaret Mead (1949), PsychoanalytikerInnen wie Georg Groddeck (1923, 2016), Erich Fromm (1933,1943), Karen Horney (1926) und PhilosophInnen wie Elisabeth Badinter (1993) mit aller Deutlichkeit vom Gebärneid des Mannes und der daraus folgenden Abwertung der prokreativen Fähigkeiten der Frau.

Elisabeth Badinter (1993, S. 51ff) sieht die Probleme für die Selbstfindung des Mannes durch seine von Natur aus prekäre Lage im Mutterleib begründet. Tatsächlich sehen weibliche und männliche Embryos zunächst gleich aus und sind der weiblichen Anatomie näher. Erst wenn das vom Y-Chromosom abhängige männliche Hormon Testosteron abgegeben wird, kann das männliche Kind seine Geschlechtsorgane ausbilden. So sei, nach Badinter, der Prozess des Mann-Werdens von Beginn an eine Abgrenzung gegen das Weibliche, der sich bei der Ablösung des Knaben von der Mutter dramatisch zuspitze. Die viel aufwendigeren Initiationsriten der Knaben im Vergleich zu denen der Mädchen seien dem Ziel geschuldet, alles Weibliche von sich zu weisen und mit dem Ertragen grosser Schmerzen männliche Härte zu beweisen.

Erich Fromm gibt zu bedenken, dass sich der Mann gegenüber der natürlichen Produktivität der Frau in gewisser Weise gehandicapt sah, weil ihm die für das Leben wichtigste Potenz fehlt. Er kompensierte dies mit technischen Erfindungen als einer „rationalen Prokreativität“, und in diesem Sinne sei unser gesamter technischer Fortschritt ein Ersatz für die Schöpferkraft der Frau und die Quelle für die Selbsterhöhung des Mannes (E. Fromm 1933, S. 49ff). Ich möchte hier anmerken, dass bei Fromm jedoch die frühen Erfindungen der Frauen auf den Gebieten der Keramik, der Flechtkunst und des gesamten Textilhandwerks unbeachtet blieben.

Karen Horney berichtet von ihren psychotherapeutischen Erfahrungen mit Männern, bei denen sie den unbewussten, doch intensiven Neid auf Schwangerschaft, Gebären und Mutterschaft sowie auf die Brüste und das Stillen wahrnehmen konnte (K. Horney 1926, S.365).

Beide, Fromm und Horney, sprechen von der Verdrängung bzw. Rationalisierung dieses Neides, wenn bei der Vertreibung aus dem Paradies im Alten Testament vom Fluch gegenüber der sündhaften Eva die Rede ist: «Mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären». Damit werden Schwangerschaft und Geburt nur noch zur Bürde, die der Mann nicht zu tragen braucht (E. Fromm 1933, S.54-56; K. Horney 1926, S.365).

Ins Mythologische gewendet kommt der Gebärneid bei den Göttern des klassischen Altertums ebenso ins Spiel wie bei manchen Stammeskulten. Am bekanntesten ist die Kopfgeburt des Göttervaters Zeus, wenn er die (längst vorher verehrte) Göttin Athene aus seinem Schädel hervorzieht. Freilich erst, nachdem er die mit Athene schwangere Weisheitsgöttin Metis verschlungen hatte. Daneben existiert der Mythos, Zeus habe Dionysos aus seinem Schenkel geboren, nachdem er das Ungeborene dem getöteten Leib seiner schwangeren Geliebten Semele entrissen und in seinen Schenkel eingenäht hatte. Parallel zur Schenkelgeburt gibt es die „Wadengeburt“ bei den Yanomami in Venezuela und bei den Bororo in Zentralbrasilien. Schliesslich berichten die klassischen Göttersagen von zahlreichen Vergewaltigungsszenen, mit denen sich Götter die Fruchtbarkeit der Frau erzwingen (C. Meier-Seethaler 2011 S.273f).

Eine völlig andere Strategie besteht in der systematischen Abwertung der weiblichen Generativität als „unrein“, was bei allen patriarchalen Kulturen bis heute der Fall ist. Bis vor wenigen Jahrzehnten verbot die katholische Kirche den Müttern nach der Geburt eines Kindes über Wochen hinweg die Teilnahme am Gottesdienst, weil sie den Vorgang der Niederkunft mit Unreinheit behaftet einstufte. Diese angebliche Leibverhaftetheit der Frau schliesst sie aus der Welt des Geistes aus und legt sie zugleich auf ihre mütterlichen Funktionen fest.

Eine weitere Art, die Abhängigkeit von der Frau zu vermeiden oder zu kompensieren, bestand in der Abwertung der Sexualität als solcher bis hin zum asketischen Leben als Mönch oder Einsiedler. Der traditionell lebende patriarchale Ehemann begegnete seiner schmerzlich empfundenen Abhängigkeit von der Frau dagegen auf andere Weise: mit der Aufspaltung des weiblichen Daseins in die «Hure» und in die «Mütterlich-Heilige». Dabei muss es sich nicht unbedingt um verschiedene Personenkreise handeln. Die Spaltung kann auch mitten durch die Frau des Hauses gehen, wenn von ihr die Erfüllung «ehelicher Pflichten» ebenso erwartet wird wie das Schaffen eines «trauten Heims» für Mann und Kinder. Ich habe das Ideal von der bürgerlichen Frau als Muttersklavin bezeichnet, als jene paradoxe Existenzform, die auf der einen Seite strikte Unterordnung und Anpassung erfordert, und auf der anderen Seite mütterliche Stärke voraussetzt, die alles versteht, alles verzeiht und psychische Krisen des Mannes auffängt (C. Meier-Seethaler, 2011).

6. Wettbewerb als Lebensform

Die mühsam gewonnene Selbstsicherheit des Knaben bedarf einer fortlaufenden Bestätigung im Sich-messen an anderen Knaben. Das beginnt mit Raufereien auf dem Schulhof, dem Wettstreit um gute Noten und setzt sich fort in der Identifikation mit berühmten männlichen Vorbildern, seien es Schauspieler, Sänger oder hervorragende Vertreter aus Wissenschaft und Politik.

Wettbewerb entsteht auch durch gegenseitiges Prahlen mit Kenntnissen, erhaltener Anerkennung und nicht zuletzt mit hoch gespielten Erfolgen beim anderen Geschlecht. Fromm hält die Eitelkeit der Männer für zentraler als die der Frauen (E. Fromm, 1951, S.389), und dies gilt in meinen Augen auch für den Stolz auf erworbenen Reichtum. Der Milliardär ist weniger von Geldgier als von Geltungsgier getrieben, um mit seinen schwindelerregenden Einkünften den Kollegen zu imponieren.
Die positivste Art einer stabilen Selbstfindung gelingt zweifellos durch alle kreativen Prozesse, sei es bei der Erfindung technischer Werkzeuge, in der wissenschaftlichen Forschung oder in der künstlerischen Gestaltung. Nur blieb die geistige Kreativität bis in die jüngste Zeit die Domäne des Mannes, von denen die Frauen hartnäckig ausgeschlossen wurden. Da es dafür keine rationalen Gründe gibt, ist dies Teil des ideologischen Geschlechterkampfes, um der Lebenskreativität der Frau eine spezifisch männliche, höher zu bewertende Schöpferkraft entgegenzusetzen (E. Fromm, 1943, S.373)

Seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaften wird der Forscher im Namen von Francis Bacon zum Superman, der sich die weiblich gedachte Natur als Sklavin unterwirft. Im Zusammenspiel mit der kapitalistischen Wirtschaftsdoktrin wurden seine Siege dann immer schneller errungen, begleitet von Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung bis hin zur drohenden Klimakatastrophe. Schliesslich führt die Entwicklung immer verheerenderer Vernichtungswaffen im Dienste politisch-ökonomischer Macht zum tödlichen Wettbewerb (C. Meier-Seethaler, 2011)

Dabei wäre es ebenso blind wie ungerecht, die enormen Verbesserungen gering zu schätzen, die der technische und der medizinische Fortschritt der Menschheit gebracht haben. Nur stehen wir heute an einem Punkt, an dem das Optimum des Fortschritts bereits überschritten zu sein scheint. So bezahlen wir für unsere grenzenlose Bewegungsfreiheit mit Verkehrsstau, Verkehrstoten und Luftverschmutzung, oder unsere Spitzenmedizin sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass hochbetagte Menschen bei ultimativer Erhaltung ihres Körpers ihre Gehirne überleben und als Demente den Persönlichkeitskern verlieren.

Ohne einem allgemeinen Kulturpessimismus zu verfallen, bricht sich gegenwärtig die Einsicht Bahn, dass es auf mehreren Ebenen nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Doch was sollen wir tun? Erich Fromm hat uns mit seiner Unterscheidung von «Biophilie» und «Nekrophilie» eine Waagschale hinterlassen, auf der wir unsere kulturellen Ziele abwägen könnten. Auf der positiven Seite käme alles zu liegen, das dem Leben dient, auf der negativen all das, was dem Leben als Ganzem Schaden zufügt.

Der Begriff «Nekrophilie» stammt aus der Psychopathologie und bedeutet so viel wie die Liebe zum Toten, worunter Fromm verschiedene Mentalitäten versteht: Den Triumph des Kriegers über die Zerstörung seiner Feinde, die Rache des Amokläufers oder die Verzweiflungstat des Suizidalen. Diese bilden aber nur die Spitze des Eisbergs. Weniger erkannt ist die Liebe zu toten Gegenständen wie etwa der Hang zu überflüssigen Konsum- und Luxusgütern oder die Liebe zum toten Geld als solchem.

Auch die Faszination durch Roboter gehört hierher: Roboter, welche das menschliche Gegenüber in der Kommunikation ersetzen, oder Plastik-Sexpuppen anstelle lebendiger Liebespartner. Gegenwärtig sind künstliche Intelligenz und Digitalisierung vorrangige Forschungs- und Wirtschaftsziele. Entscheidend für die positive oder negative Bewertung dieser Vorhaben wäre der genannte Massstab der Biophilie, also der Lebensförderung.

Automatische Sicherheitsvorkehrungen, die Autolenker und öffentliche Verkehrsmittel vor Unfällen bewahren, verdienen sicherlich Zustimmung, hingegen macht die Vorstellung total autonomer Beförderungsmittel eher unbehaglich. Die Frage sollte lauten: Unter welchen Umständen fühlen Menschen sich sicher? Und nicht: Welche Methoden bringen Personaleinsparungen und damit maximalen Profit? Dann wird der Hotelportier als seelenlose Maschine weniger gut abschneiden als der Roboter-Greifarm in gefährlichem Gelände.

Nur Masslosigkeit ist lebenswidrig, und die trifft auch auf die seit langem angekündigte Herstellung von «Geistkindern» zu, also von Supercomputern, für die der Leib entbehrlich geworden ist. Der Mathematiker Joseph Weizenbaum konnte sich dieses Vorhaben nur als eine Kompensation für die fehlende männliche Gebärfähigkeit erklären (J. Weizenbaum 1990). Schliesslich war die zärtliche Bezeichnung «Little Boy» für die erste abgeworfene Atombombe der zynische Höhepunkt einer nekrophilen Geburtsmetapher.

Daneben nehmen sich unsere Fernsehkrimis und die unter Jugendlichen beliebten Killerspiele geradezu bescheiden aus, doch ist auch deren nekrophiler Anteil unverkennbar. Das allabendliche Überangebot an Destruktivität ist für Viele abstossend. Für Andere bietet es dagegen eine Flucht aus der Langeweile, die Fromm für die Ursache von Sensationsgier hält. Dabei könne dies auch die Neigung zu eigenen destruktiven Impulsen wecken (E. Fromm, 1937, S.224).

7. Der Stellenwert matriarchaler Kulturtheorien in feministischen Bewegungen

Die archäologischen Entdeckungen Mellaarts und Gimbutas‘ in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden von einem Teil der Frauenbewegung enthusiastisch aufgenommen. In den 70er und 80er Jahren entstanden dann so prominente Werke wie das von Mary Daly «Beyond God the Father» (1973), Göttner-Abendroths «Die Göttin und ihr Heros» (1980) sowie Gerda Weilers Buch über das Matriarchat im Alten Testament (1984).

Die Vorstellung einer genuin weiblichen Religiosität, verbunden mit weiblich akzentuierter Gesellschaftsordnung weckte ein ganz neues Selbstbewusstsein innerhalb der Frauenbewegung und führte zur Ausbildung eines radikalen Feminismus. Dabei kam es zu Wiedererweckungs-Versuchen von Göttinnen-Kulten, Frauenritualen und Jahreszeitenfesten, sowie einer Art Heiligsprechung der Natur, die in ihrem Kern mit weiblicher Kreativität identisch erschien. In den U.S.A gab die künstlerisch begabte Miriam Simos unter ihrem Pseudonym „Starhawk“ mit der Kreation von Frauentänzen und sakralen Frauenliedern den Anstoss zu spirituellen Gemeinschaftserlebnissen auch in Europa.

Ich selbst stand und stehe diesen Bewegungen distanziert gegenüber: Zum einen, weil ich als A-Theistin überzeugt bin, dass alle Projektionen menschlicher Erfahrungen ins Reich des Transzendenten zurückzunehmen sind; zum anderen, weil ich als Psychologin jede Art von Esoterik als eine Überflutung durch symbolische Bilder einschätze, was etwas grundsätzlich anderes ist als die Kenntnisnahme und das Ernstnehmen mythologischer Vorstellungen für den Verlauf der Kulturgeschichte.

Am meisten verbunden fühle ich mich mit feministischen Theologinnen, die ganz auf einen personalen Gottesbegriff verzichten. So ist für die amerikanische Theologin Carter Hayward Gott «die Macht in Beziehung» (C. Hayward 1986, S.30f.) und das Verb «to god» das liebende Handeln in der Welt. Wenn Gott die Liebe ist, so gelte auch der Umkehrschluss, die gelebte Liebe sei Gott (ebda, S.116).

Die schweizerische Theologin Doris Strahm formuliert es ähnlich, wenn sie sagt: «Ich glaube nicht an Gott. Aber ich glaube daran, dass ‚Gott‘ geschieht, wann immer wir das Leben und unser Menschsein heiligen, wann immer wir uns mit Achtung einander zuwenden, uns berühren lassen von der Not und den Bedürfnissen anderer und voll Zorn das Unrecht, das ihnen geschieht, beim Namen nennen» (D. Strahm, 1998, S.9). Dies ist der Brückenschlag zwischen Theologie und Humanismus, den Hayward mit ihrer Aussage leisten will: «Ein theologisches Ja ist vor allem ein anthropologisches Ja» (C. Hayward, 1985, S.151).

Auch im Blick auf frühgeschichtliche matrizentrische Sippenstrukturen sollte die realistische Einschätzung gegenüber einer begeisterten Idealisierung nicht verloren gehen. Bei allen hervorragenden Aspekten wie das Streben nach Ausgleich und friedlichen Konfliktlösungen, gab es angesichts einer bedrohlichen Natur auch tragische Seiten: Die an Göttinnen gerichtete Opferpraxis in Form von Tieropfern und in grösster Not auch als Opfer eines Menschen; oder die Schattenseiten einer abergläubischen Dämonisierung bestimmter Orte oder Ereignisse.

Grundsätzlich positiv zu bewerten ist die frühe Verbindung der Matriarchatsforschung mit klar erkannten ökologischen Problemen. «Ökofeministinnen» wie Maria Mies, Vandana Shiva oder Veronika Bennholdt-Thomsen leisteten (oder leisten immer noch!) wesentliche politische Aufklärung ohne die Geschlechterproblematik zu radikalisieren.

Expliziter Widerstand gegen Matriarchatstheorien kam aus Kreisen von Historikerinnen und Verfechterinnen der Gleichstellung, die den «Mythos Matriarchat» verdächtigten, er diene der patriarchalen Rechtfertigung. Dies im Blick auf indianische Legenden, wonach die Frauen einst die Chance der Herrschaft gehabt, aber wegen Unfähigkeit verloren hätten (I. Bamberger 1974; M. Janssen-Jureit 1976). Ich halte dies für eine Verwechslung von authentischer Erinnerung an matrizentrische Traditionen und einer nachträglichen Rechtfertigungsideologie.

Eines jedenfalls ist festzuhalten: der Geschlechterkampf ging eindeutig von der Männerseite aus, und das Patriarchat ist eine historisch nachvollziehbare Konstruktion, die auch wieder zu beenden ist (G. Lerner, 1986, S.283).

Ich selbst sehe bei aller Schärfe meiner Patriarchatskritik keinen prinzipiellen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Vernunft. Eigentlich wäre es zutreffender, statt von feministischer Philosophie, feministischer Wissenschaft und feministischer Ethik von «nicht androzentrischer» Philosophie, Wissenschaft und Ethik zu sprechen, um mit der falschen patriarchalen Tradition zu brechen, die den androzentrischen Blick mit allgemein menschlicher Vernunft verwechselt. In dieser Hinsicht fühle ich mich in Übereinstimmung mit Denkerinnen wie Evelyn Fox-Keller, Cornelia Klinger, Tove Soiland und den feministischen Philosophinnen des Wiener Kreises um Herta Nagl-Dodecal.

Was die Ethik anbelangt, so hat sich Carol Gilligan zu Recht gegen einseitig rationalistische Kriterien gestellt, doch wollte sie mit «Die andere Stimme» (1984) keiner spezifisch weiblichen Ethik das Wort reden, sondern einer allgemein humanen Ethik, welche emotionale und situative Kontexte einbezieht. Wenn es unterschwellig bei manchen Interpretinnen die Tendenz gibt, Frauen per se für das moralisch bessere Geschlecht zu halten, bzw. Männer von Natur aus anfälliger für das Böse, so ist dies genauso unhaltbar wie die patriarchale Zuordnung der moralischen Schwäche an die Frau. In der Philosophie wird dies als „naturalistischer Fehlschluss“ bezeichnet: Moral bezieht sich grundsätzlich nicht auf das Naturgegebene, sondern auf die bewusste Entscheidung der Person für bestimmte Werte; die allerdings von gesellschaftlich sanktionierten Wertmassstäben nicht unabhängig sind. Das bedingt ein immer neues Überprüfen solcher Massstäbe und das Suchen nach Konsens über Mittel und Ziele, die humanes Handeln in der gegebenen Situation möglich machen.

8. Die Diskussion um Gleichheit und Differenz

Hier geht es um die wesentliche Frage, was Gleichberechtigung für die Frauen konkret bedeutet. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass Chancengleichheit im Zugang zu Bildung, zu allen Berufen einschliesslich Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu den demokratischen Grundrechten der Frauen gehören. Mit anderen Worten: Patriarchat und Demokratie sind unvereinbar.

Solange aber patriarchale Strukturelemente noch real in Erscheinung treten, kann Gleichberechtigung nicht einfach Angleichung an das bestehende System heissen. Wenn wir Empfehlungen hören, Frauen sollten bei einem Bewerbungsgespräch ebenso fordernd und imponierend auftreten wie Männer (womöglich mit teurem Auto und teurer Armbanduhr) oder ihren Wissensvorsprung mit KollegInnen nicht teilen, sondern für die eigene Karriereleiter nutzen, dann ist es nicht verwunderlich, dass es sich gerade die am besten ausgebildeten Frauen zweimal überlegen, ob sie in diese Ellenbogen-Arena einsteigen möchten. Gleichberechtigung würde vielmehr heissen, dass Frauen ihren selbst gewählten, auf Zusammenarbeit ausgerichteten Führungsstil einsetzen - und damit auch Männer gleicher Gesinnung bestärken können.

Als Beispiel für eine unkritische Auffassung von Gleichstellung ist mir die Aussage einer jungen Frau in Erinnerung geblieben, die sagte, sie fühle sich erst dann gleichberechtigt, wenn sie Generalin werden könne. Ich bringe dies für mich auf den umgekehrten Punkt: Gleichstellung wäre erst dann gegeben, wenn auch Generäle halbtags ihre Babies hüten würden (womit gleichzeitig Kriege illusorisch würden).

Grosse Mühe macht mir die gegenwärtige Gender-Debatte, welche die klassischen Fragen der Frauenbewegungen an den Rand drängt. Wenn unter Berufung auf Judith Butler (1993) die biologische Zweigeschlechtlichkeit als solche in Frage gestellt und als kulturelle Konstruktion abgetan wird, dann erübrigt sich im Grunde die Geschlechterfrage. Auch gibt es eine Zuspitzung der so genannten Intersektionalität, die auf die mehrfache Betroffenheit von sexistischer, rassistischer und klassenspezifischer Unterdrückung hinweist und zu Recht blinde Flecken im Feminismus weisser Frauen benennt. Wenn aber die Behauptung im Raum steht, es gäbe keine einzige Gemeinsamkeit, die alle Frauen miteinander teilen, so fällt das «Wir» der internationalen Frauenbewegungen dahin und damit auch die Solidarität unter Frauen. (Vergl. Cornelia Klinger und Tove Soiland 2012).

Beiden Zuspitzungen ist entgegenzuhalten, dass die Zweigeschlechtlichkeit seit über 500 Millionen Jahren eine biologische Tatsache ist, und ebenso, dass nur die Weibchen die Fähigkeit besitzen, neues Leben hervor zu bringen. Besonders eindrücklich ist dies bei den Säugetieren, zu der auch wir Menschen gehören.

Allerdings wies die Frauenbewegung schon in den 80er Jahren die Mutterrolle als die normativ gültige Identität der Frau zurück und forderte das Recht auf freiwillige Kinderlosigkeit. Doch sollte die Angst davor, wieder auf das patriarchale Rollenbild beschränkt zu werden, die grundsätzliche Gebärfähigkeit der Frauen nicht unterbewerten. Die «Gebürtigkeit», die Hannah Arendt (1960) als humane Fähigkeit zu stetem Neuanfang hervorhob, ist nicht ablösbar vom Mutterleib, es sei denn, man setzt auf lebensfremde, technische Utopien (E. Badinter 1993, S.224).

Noch verwirrender ist die heute allgegenwärtige Fokussierung auf das Phänomen der Transsexualität. Schon die von den U.S.A. ausgehende Kampagne LGBTTI klingt in Westeuropa zu pauschal, denn die drei Buchstaben für Homosexualität und Bisexualität (Lesbian, Gay, Bisexual) sind in unseren Breiten durch ihre Akzeptanz bis in die höchsten Berufsgruppen kaum noch aktuell. Das I als Schutzforderung für Intersexuelle wird besonders in medizinischen Kreisen sehr ernst genommen. So hat man Abstand genommen von der früheren Praxis, Neugeborene, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, routinemässig einer Anpassungsoperation zu unterziehen. Heute strebt man individuelle und selbstbestimmte Lösungen im Gespräch mit den Heranwachsenden an.

Darüber hinaus gibt es gegenwärtig Queer-Gruppen, die sich vehement gegen eine «Pathologisierung» dieser sehr seltenen Fälle stemmen mit dem Argument, Intersexualität sei keine unvollendete Sexualentwicklung, sondern alle Zwischenformen seien als originale, ebenbürtige Geschlechter anzuerkennen, was bis zu der absurden Annahme führt, es gäbe 30 oder 40 Geschlechter.

Schliesslich stehen die beiden T für Transsexuell und Transgender, was manchmal nicht klar unterschieden wird. Meist wird Transsexualität als operative Umwandlung zum weiblichen oder männlichen Geschlechtskörper verstanden, die es vereinzelt schon seit längerer Zeit gibt, wobei die psychischen Wurzeln für dieses aus existentieller Not entstandene Begehren unklar sind.

Der Begriff Transgender umfasst Transvestismus, also den Wechsel von Kleidung, Haartracht und Umgangsformen und die Übernahme von Tätigkeiten, die traditionellerweise das jeweils andere Geschlecht kennzeichnen. Oft ist dabei mit dem Verweis auf indigene Völker von einem «Dritten Geschlecht» die Rede, was aber eine Fehlinterpretation von Ethnologen darstellt (weil sie die religiösen und psychosozialen Hintergründe solcher Bräuche nicht einbeziehen).

In Mitteleuropa war das Transgender-Problem seit den 68er Jahren nicht aktuell, nachdem man die Geschlechter-Klischees zurückwies, und sich beide Geschlechter in ihrer äusseren Präsenz einander anglichen. Deshalb wirkt die gegenwärtige Propaganda für Transvestismus eher anti-emanzipatorisch. Sie ist aber nicht nur eine aus den U.S.A. übernommene Tendenz, sondern dahinter stehen auch handfeste finanzielle Interessen, z.B. beim Handelsangebot von Transgender-Utensilien.

Vollends irrational wirken auf mich Aussagen wie diese: Der Wunsch, den eigenen Vornamen in weiblich oder männlich zu verändern, sei völlig unabhängig von der eigenen Körperbeschaffenheit und könne ohne irgendeinen Rollenzwang bestehen auch dann, wenn der frei gewählte Beruf der eigenen Persönlichkeit entspreche. Es gäbe einfach so etwas wie das Gefühl, dass die eigene Seele nicht im richtigen Körper sei, und jeder Mensch solle die freie Wahl haben, sich als Frau oder Mann registrieren und ansprechen zu lassen. Dass diese esoterisch wirkende Argumentation in der Praxis nichts als Verwirrung stiften kann, ist offenkundig, und zwar sowohl für Erwachsene bei der Partnersuche, als auch besonders bei der Identitätssuche von Kindern und Jugendlichen.

Dazu kommt, unter der Regenbogenflagge, die Forderung nach der Ehe für alle und dem angeblich dazugehörigen Recht auf Kinder für alle: sei es durch Adoption, durch Leihmutterschaft, durch Kauf von Eizellen oder hoch dotierten Spermien. Mit Sicherheit stehen auch dahinter grosse finanzielle Interessen, nämlich diejenigen von Reproduktionskliniken oder von gewerblichen Vermittlungsagenturen. Dem ist klar entgegenzuhalten, dass es prinzipiell für keinen Personenkreis ein «Recht» auf Kinder gibt, und dass Leihmutterschaft in den allermeisten Fällen die ultimative Ausbeutung von Frauen in Notlagen darstellt (Christa Wichterich 2018).

Es gibt aber auch politische Bedenken dagegen, dass zurzeit geradezu ein Wettlauf um die Anerkennung von Minderheiten stattfindet. Dies kann der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin nur recht sein, weil diese Aktivitäten von den eigentlichen Problemen unserer globalen Welt ablenken und weder das patriarchale noch das finanzkapitalistische System als Ganzes in Frage stellen.

Hoffnungsträger für die Zukunft: Die «Neuen Ökonomen» und die Neuen Väter
Die beiden Personenkreise, auf die ich meine Hoffnung setze, scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, und dennoch können sie ihre Breitenwirkung nur gleichzeitig entfalten.

9. Die «Neuen Ökonomen»

Die Ökonomen nenne ich zuerst, weil sie die sozioökonomischen Zusammenhänge völlig neu beurteilen und damit erst die Voraussetzungen für die Neuordnung von Geschlechterverhältnissen und Familienstrukturen schaffen. Sie sind endlich daran, die seit Adam Smith (1723-1790) im wissenschaftlichen Mainstream vorherrschende Marktideologie als grundsätzlich überholt zu begreifen und an neuen Konzepten zu arbeiten.

Bereits der kürzlich verstorbene Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger wies in seinem Buch «Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen» (1998) auf die irrationalen Hintergründe der kapitalistischen Doktrin hin: Sie berufe sich bis heute auf den von Adam Smith geprägten Begriff von der «unsichtbaren Hand des Marktes», von dem Binswanger nachweist, dass ihn Smith aus der Philosophie der Stoa entlehnte. Zum Teil zitiert er wörtlich die Lehre Epiktets (50-138 n.u.Z.), wonach die göttliche Hand die Selbstsucht und Habgier der Menschen letztlich zum guten Leben aller lenke. Es sei die Weisheit Gottes, die über die Kunst verfüge, selbst aus dem Bösen Gutes zu schaffen. Ein Gedankengang, den Smith als gläubiger Mensch übernimmt.

Im Zuge der Industrialisierung verband sich diese stillschweigende Übereinkunft unter massgebenden Ökonomen mit dem optimistischen Fortschrittsglauben, der die negativen Auswirkungen wie die Ausbeutung abhängiger Menschen und die Schäden an der Natur aus dem Bewusstsein verdrängte. Diesem «Marktfundamentalismus» (G. Soros 1998, S.256) widersetzt sich der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz indem er die Theorie für völlig unhaltbar hält, dass das Streben jedes Unternehmens nach Profitmaximierung dem Gemeinwohl diene (J. Stiglitz 2004, S. 259). Er bringt dies mit seiner Aussage auf den Punkt: «Die unsichtbare Hand des Marktes ist unsichtbar, weil es sie gar nicht gibt» (makroskop.en/2017/12).

Thomas Pikettys Aufsehen erregendes Buch „Das Kapital des 21. Jahrhunderts“ (2014) rechnet zum ersten Mal mit einer 300 Jahre und 20 Länder umfassenden Datenerhebung vor, dass die erwarteten Segnungen des freien Marktes nur einen begrenzten Teil der Menschheit erreichten. Trotz Bemühungen linker Kreise um soziale Gerechtigkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten die soziale Ungleichheit sogar noch zugenommen, weil die grossen Vermögen in den Händen Weniger sehr viel rascher anwachsen als die Einkommen in Form von Leistungslöhnen der Unter- und Mittelschichten.

In der Folge der noch keineswegs gelösten Finanzkrise von 2007/08 schlossen sich eine Reihe von Forschern und Professoren an Schweizer Universitäten in der «Vereinigung zur Erneuerung von Forschung und Lehre in Wirtschaftswissenschaften und Finanzen» zusammen. Im Sommer 2018 veranstalteten sie ein öffentliches Symposium in Fribourg unter dem Titel «Wirtschaft und Finanzen anders studieren».

Der Präsident der 30 Mitglieder umfassenden Vereinigung, Professor Marc Chesney von der Universität Zürich, beklagt die Tatsache, dass weder die Banken und Finanzexperten, noch die meisten Universitätslehrer die Konsequenzen aus den wirtschaftlichen Verwerfungen gezogen hätten. Sein zum hundertsten Jahrestag vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasstes Buch unter dem Titel «Vom grossen Krieg zur permanenten Krise» ist ein Weckruf an Wissenschaft und Gesellschaft, unsere demokratischen Prinzipien nicht von interanationalen Konzernen unterlaufen zu lassen. Darin schlägt Chesney in 20 Punkten Massnahmen vor, wie dem verhängnisvollen Finanzimperium Einhalt geboten werden kann.

10. Die Neuen Väter

Die jungen Väter verdienen als Hoffnungsträger die gleiche Aufmerksamkeit wie die Neuen Ökonomen, obwohl sie als Privatpersonen in aller Stille die Basis unserer Gesellschaftsstruktur verändern.

Der Ruf nach Gleichberechtigung der Frau auf politischer Ebene bleibt wirkungslos, solange das konservative Familienmodell es ihr nicht erlaubt, ihre demokratischen Rechte konkret auszuüben. Die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf plus politischer Aktivität gehört zu den dringendsten innenpolitischen Problemen überhaupt; und das ist nur lösbar, wenn Väter den paritätischen Anteil an Betreuungs- und Hausarbeit übernehmen. Wir sollten also von der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf sprechen, und dafür Lösungen anzubieten, wäre die Sache der Arbeitgeber. Der politische Wille dazu ist allerdings noch sehr schwach: In der Schweiz fehlt im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sogar ein grosszügiger Vaterschaftsurlaub als ein erster Schritt. Die angekündigte Digitalisierung des Arbeitslebens böte für eine Neuordnung der Arbeitszeiten vielleicht eine Chance, allerdings nur, wenn die räumlichen Gegebenheiten für ein Nebeneinander von Berufsarbeit und Kinderbetreuung zur Verfügung stehen.

Dabei greift der Gedanke zu kurz, ein solches Eltern-Modell käme vor allem den Frauen zugute. Einen ebenso grossen Gewinn könnten die Männer daraus ziehen, wie auch die Kinder beiderlei Geschlechts. Im konservativen Familienmodell sind ja die Väter vor allem während der Kleinkindheit so gut wie abwesend, so dass sie eine emotionale Vater-Kind-Beziehung, die der Mutter-Kind-Beziehung ebenbürtig ist, gar nicht aufbauen können. Dies behindert vor allem Knaben in ihrer Identitätsfindung, wenn sie den Vater in erster Linie als leistungsfordernd und nicht als emotional mitfühlend und hilfsbereit erleben. Umgekehrt können Mädchen in berufstätigen Müttern ein Vorbild für ihre eigene Selbstverwirklichung finden. Nicht zuletzt würden die Männer in ihrem Selbstwertgefühl dadurch gestärkt, dass sich die Selbsteinschätzung nicht mehr nur am aufreibenden beruflichen Wettbewerb messen liesse, sondern gleichermassen an ihrer väterlichen Verbundenheit und deren lebenslanger Wirkung.

Dass das patriarchale Männer- und Frauenbild eigentlich halbe Menschen aus beiden Geschlechtern macht, und oft genug auch kranke Menschen, trat mir in meiner psychotherapeutischen Praxis deutlich vor Augen. Nicht selten wurden mir von Ärzten beide Ehepartner unabhängig voneinander überwiesen: Der Mann wegen psychosomatischer Stress-Symptome, die Frau wegen nervöser Spannungen als Ausdruck ihres Zurück- geworfen- seins in das Ghetto des Haushalts und das Brachliegen ihrer Talente. Das zwang mir die Frage auf, welchen Sinn es ergibt, Männer zu Herzinfarkt-Kandidaten zu machen und deren Ehefrauen wegen ihrer häuslichen Beengtheit mit Psychopharmaka und Gesprächstherapie über Wasser zu halten. Diese irritierende Erfahrung war der äussere Anstoss zu meiner kulturgeschichtlichen Erforschung anderer Geschlechterverhältnisse und Familienmodelle.

Dabei wurde mir der tiefe Zusammenhang zwischen dem (verdrängten) Gebärneid des Mannes und seiner selbst überfordernden Rolle als siegreicher Natur- und Weltbeherrscher bewusst. Umso dringender empfinde ich die Notwendigkeit, ein anderes Männerbild zu schaffen, das dem Mann erlaubt, am werdenden Leben unmittelbar teilzunehmen und eine biophile Grundhaltung zu entwickeln.

Im Grunde legt die Besonderheit des menschlichen Geburtsverlaufs den Einbezug der Väter geradezu nahe: Das Menschenkind ist ja ein zu früh geborener Fötus, der nach neun Monaten im Mutterleib noch ca. zehn Monate getragen werden muss. Diese «extrauterine Embryonalzeit» (A. Portmann) oder wie ich sie nenne, die «nachgeburtliche Tragzeit», kann der Vater mit der Mutter teilen, und dies würde seine als zweitrangig empfundene Unfähigkeit des Gebärens aufwiegen. Zudem können Babies und Kleinkinder enorm viel Freude bereiten.

Die alte Vorstellung, Männer müssten «hart», Frauen dagegen «weich» sein, ist eine überholte Polarisierung, und so halte ich auch die Wunschvorstellung vom neuen «weichen Mann» für irreführend. Beide Geschlechter sollten die Stärke ihrer vitalen und mentalen Kraft mit den Fähigkeiten der Einfühlung und der emotionalen Wärme verbinden. Damit wäre das Klischee von der Unvereinbarkeit zwischen Rationalität und Emotionalität an seiner Wurzel beseitigt, und gesamtgesellschaftlich wäre es enorm positiv, wenn in der politischen Diskussion die «emotionale Vernunft» den gleichen Stellenwert erhielte wie das rationalistisch-technische Denken (C. Meier-Seethaler 1997).

Dazu kommt, dass der Wegfall alter Klischees neue Perspektiven für die Kindererziehung eröffnet. Väter sind nicht mehr nur fordernde und strafende Autoritäten, Mütter nicht mehr nur verwöhnende Trostspenderinnen, die ihre eigenen Kinder immer verteidigen. Für Mädchen und Knaben wäre die Zuverlässigkeit beider Eltern zentral, sei es in Bezug auf ihre Anwesenheit, sei es im Einhalten von Versprechungen. Wobei auch beide Elternteile den Kindern Ehrlichkeit und das Befolgen von Regeln abfordern.

Dass es dabei auch Meinungsverschiedenheiten gibt, für die ein Konsens gefunden werden muss, macht Kinder früh nachdenklich und kann ihr Urteilsvermögen stärken. Und wenn gegenseitiges Vertrauen und zärtliche Beziehung im Zentrum stehen, relativieren sich alle fundamentalistischen Pädagogikempfehlungen wie von selbst.

Die Befreiung zur Partnerschaft, von der ich spreche, bedeutet mehr als die Beendigung des Geschlechterkampfs. Sie schliesst das Zusammenwirken mit der Natur ein, ohne auf mögliche Schadensbegrenzung und nachhaltige Verbesserungen zu verzichten. Vor allem aber wäre es eine Absage an Machthunger und Krieg, die nicht mehr mit männlichen Tugenden wie Tapferkeit und Todesverachtung zu beschönigen sind. Herrschaft und Krieg sind seit den vergangenen 5000 Jahren eine Geissel der Menschheit und haben letztlich immer nur Elend gebracht. Deshalb sind permanente Bemühungen um friedliche Konfliktlösungen das einzig Vernünftige und Menschenwürdige, und in diesen Prozess müssten noch viel mehr hochbegabte Frauen einbezogen werden.

Wem dieses Fazit zu optimistisch erscheint, sollte sich die Tatsache in Erinnerung rufen, dass die Erfindung des Patriarchats in der Menschheitsgeschichte relativ jungen Datums ist. Und weil die patriarchale Ideologie als Folge irrationaler psychischer Komplexe entschlüsselt werden kann, besteht die Hoffnung auf ihre prinzipielle Überwindbarkeit.

Quellen:

- Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben. Stuttgart 1960
- Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht und Urreligion. Stuttgart 1941
- Badinter, Elisabeth: XY. Die Identität des Mannes. München 1993
- Bamberger, Joan: The Myth of Matriarchy. In: Women, Culture and Society; Stanford 1974
- Bennholdt-Thomsen, Veronika: Juchitan. Stadt der Frauen. Hamburg 1994
- Bettelheim, Bruno: Die symbolischen Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes. Frankfurt am Main 1982
- Biesele, Megan, Herausgeberin: The Past and Future of !Kung Ethnography, Hamburg 1986
- Dieselbe: The Ju/Hoan San of Nyae Nyae(Namibia) New York/ Oxford 2011
- Binswanger, Hans Christoph: Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen. München 1998
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- Wullschleger, Manuela: Neolithische Kunst in Rumänien. arte’m 2008

Das Zeitalter des Zorns ist 5000 Jahre alt - Zu Pankaj Mishras Werk

[15.12.2017]

In seinem epochalen Werk "Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart" (Frankfurt/Main 2017) zieht Pankaj Mishra die Parallele zwischen den heutigen Polarisierungen in Politik und Gesellschaft und dem geistigen Klima am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So erinnert er daran, dass es schon vor hundert Jahren in Frankreich Terroranschläge gegen grossbürgerliche Kultureinrichtungen gab, verübt von den verbitterten Verlierern des industriellen Fortschritts; zudem an die Reaktionen auf den Glaubensverlust nach dem „Tod Gottes “in Form anarchistischer Heilsvisionen, die auf die Zerstörung alter Ordnungen setzten und auf deren Ablösung durch futuristische Gewaltherrschaft. Die Besetzung von Fiume im Jahr 1919 durch Gabriele D‘Annunzio und seine Ausrufung des „Freistaat“ Fiume könne als makabres Vorspiel des Islamischen Staates in unseren Tagen gesehen werden.
Mit diesem Vergleich wehrt sich Mishra gegen die Vorstellung vom Kampf der Kulturen und deren religiösen Hintergründen, um die eigentlichen Ursachen für die weltweiten Brutstätten des Zorns zu analysieren. Sein erster Blick richtet sich auf den so genannten Kristallpalast an der Weltausstellung in London 1862, auf der sich die Errungenschaften des englischen Frühkapitalismus mit Stolz und Zukunftsoptimismus präsentierten. Der Traum von der produktiven Macht des Geldes und der endlosen Vervollkommnung technischer Machbarkeit verband sich mit den Idealen der französischen Revolution: zur Illusion vom grösstmöglichen Glück der grösstmöglichen Zahl, wie sie dem angelsächsischen Pragmatismus vorschwebte.
Bewunderung und Neid erfasste die Besucher der Weltausstellung aus dem übrigen Europa und der ganzen Welt von Moskau bis Kalkutta, Tokio und Shanghai, und dies führte zu einer beispiellosen Aufholjagd unter dem Vorzeichen ständigen Wirtschaftswachstums; ein Dogma, das uns bis heute gefangen hält. Im Schatten blieb der enorme Preis, den die Masse der Proletarier und Sklaven für den Aufstieg des englischen und später des amerikanischen Wirtschaftsimperiums bezahlte, ein Preis, den erst Karl Marx und die Anarchisten um Michail A. Bakunin (1830-1881) ans Licht zogen.
Allerdings hatte diese Entwicklung nicht erst im 19. Jahrhundert eingesetzt. Mishra macht einige Aspekte der europäischen Aufklärung für den blinden Fortschrittsglauben mitverantwortlich: so, wenn der Primat der rationalen Vernunft mit der Selbstregulation des freien Marktes für kompatibel gehalten wurde. Adam Smith (1723-1790) rechtfertigte ja das skrupellose Profitreben der einzelnen Marktteilnehmer, weil er davon ausging, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes letztlich die wirtschaftliche Besserstellung aller bewirke. Mishra erinnert daran, dass ein so hoch verehrter Aufklärer wie Voltaire (1604-1788) nicht nur scharfsinniger Philosoph, sondern auch cleverer Geschäftsmann und Unternehmer war, der seinen Luxus gern zur Schau trug und sich nicht scheute, freundschaftlich mit autoritären Machthabern zu verkehren, etwa mit Friedrich dem Grossen oder mit der Zarin Katharina II.
Dies musste Rousseau (1712-1778) erzürnen, der die Gleichheit aller Menschen und ihre angeborenen Freiheitsrechte ernst nahm und innerhalb der Aufklärungsbewegung gegenüber Voltaire den Antipoden darstellte. Von seiner unglücklichen Kindheit geprägt, konnte sich Rousseau nur allzu gut in die Gefühlslage deklassierter und entwurzelter Zeitgenossen versetzen. So geisselt er die Herzlosigkeit der Kommerzgesellschaft wie auch den Klassendünkel und die Heuchelei der neuen Oberschichten. Damit sprach er aus, was Tausende empfanden, die auf der Rennbahn der Modernisierung zurückgeblieben waren: Neid auf die Erfolgreichen, Verlust an Selbstvertrauen und gleichzeitig den Mangel an sozialer Zugehörigkeit.
Dem stellt Rousseau die Vision einer Gesellschaft entgegen, die auf gegenseitiger Achtung und Hilfsbereitschaft beruht und beschwört das einfache Leben, das er – irrtümlicherweise – im Alten Sparta verwirklicht sah. So verfing er sich im romantischen Ideal der Volkszugehörigkeit, das 100 Jahre später in den verhängnisvollen Nationalismus als eine Art Glaubensersatz mündete. Darin offenbaren sich bis heute die paradoxen Folgen einer rein rationalen Aufklärung: Universelle Menschenrechte versus völkische Identität, wissenschafts-und Technikeuphorie versus Rückkehr religiöser Traditionen.
Schliesslich, so Mishra, setze die gegenwärtige Globalisierung als Spielfeld der Gewinnmaximierung Menschen wie Schachfiguren ein, die jederzeit verschoben oder wegrationalisiert werden können, und schaffe damit ein Klima der Entwurzelung. Hatte die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit die Konsequenzen des Kapitalismus gemildert, so fegt der neoliberale Individualismus alles hinweg, was an Gefühlen der Zugehörigkeit und der persönlichen Identität innerhalb des Gemeinwesens noch verblieben war.
Es ist die eigentliche Stärke von Mishras Analyse, dass er die psychologischen Zusammenhänge zwischen einer Vielfalt von Frustrationen, - Verlust an sozialer Anerkennung, Lebenssinn und Zukunftsperspektiven -, und der zunehmenden Bereitschaft zu destruktivem Verhalten klar benennt. Ohne Erich Fromm und seine „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ zu zitieren, bestätigt er dessen Erkenntnisse: Es sind die Gefühle der Ohnmacht, die Hass erzeugen, und destruktive Akte wollen die eigene Ohnmacht in die Illusion der Allmacht verwandeln. Für das Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein, zählt dann das eigene Leben ebenso wenig wie das Leben der Mitmenschen.
Am Beispiel des Massakers von Oklahoma 1995, das Timothy Veigh an 168 Menschen verübte, zeichnet Mishra das Psychogramm eines kaltblütigen Massenmörders. Der aus dem weissen Mittelstand stammende Veigh war intelligent, gut ausgebildet und politisch interessiert. Als Sohn geschiedener Eltern konnte er als Junge keine emotionalen Bindungen entwickeln und zog sich in die virtuelle Welt der Männlichkeitsphantasien à la Rambo zurück. Entscheidend prägte ihn sein Kriegseinsatz im Irak, wo ihm, wie er vor Gericht aussagte, das massenhafte Töten befohlen wurde. Sein Zorn galt der amerikanischen Regierung, die in seinen Augen den Geist der amerikanischen Pionierzeit verriet. Deshalb sein Terrorakt gegen ein Regierungsgebäude. Als einsamer Täter und als Atheist ohne jeden Bezug zu einer fundamentalistischen Ideologie plante er kaltblütig sein mörderisches Unterfangen, liess sich danach widerstandslos festnehmen und nahm das Todesurteil ungerührt entgegen. Dies alles erscheint als Racheakt eines Desillusionierten, dem es nicht gelang, eine positive männliche Identität aufzubauen. In dieses Bild passt seine Frauenfeindlichkeit und Frauenverachtung, ein Grundzug, den Mishra bei allen anarchistischen Rebellen ausmacht: beginnend mit D‘Annunzios Manifest (1909) über den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik bis zu den Terroristen und Vergewaltigern des so genannten Islamischen Staats. Dasselbe gelte für despotische Aufsteiger aus dem sozialen Untergrund, wofür Napoleons schamlose Frauenfeindlichkeit ein Beispiel sei, oder der zur Schau getragenen Machismo eines Ehrgeizlings wie Donald Trump.
Von daher bedürfte es allerdings der Erklärung, warum Männer so viel empfindlicher auf persönliche Kränkung reagieren als Frauen, die seit Jahrhunderten systematische Zurücksetzung erleiden. Dies umso mehr, als sich das männliche Ressentiment auch beim Mainstream des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts findet. Das klassische Beispiel dafür ist Francis Bacon (1561-1626), der Begründer der experimentellen Naturwissenschaft.
Bacon erteilt der Naturbetrachtung vor seiner Zeit eine schroffe Absage, indem er ihr eine passiv-weibische Haltung vorwirft. Nun proklamiert er das männliche Zeitalter der Wissenschaft, in welchem „Supermen“ mit der neuen wissenschaftlichen Methode die Natur beherrschen werden wie eine Sklavin. Stets spricht er von der Natur in weiblichen Bildern und davon, ihr mit Hilfe von Experimenten ihre Geheimnisse zu entreissen und sie durch Neuschöpfung künstlicher Lebewesen in den Schatten zu stellen. 400 Jahre später sollte sich Bacons Vision weitgehend erfüllen, freilich mit dem makabren Nebeneffekt, die Ressourcen der Natur nachhaltig zu zerstören.
Auch war seine verächtliche Einschätzung der kontemplativen Haltung des Mittelalters als „weibisch“ eine Fehldiagnose. Vielmehr war auch sie eine Spielart männlicher Überlegenheitsansprüche, wenn sich Mönche und Gelehrte auf die rein geistige Welt zurückzogen und die Banalitäten des Lebens den Frauen überliessen. Die Vorstellung, das weibliche Geschlecht sei nur die mindere Ausgabe des Menschen, hatte der Erztheologe Thomas von Aquin von Aristoteles übernommen; und weil das europäische Geschichtsbewusstsein noch im 20. Jahrhundert die griechische Antike für die Wiege der Kultur schlechthin hielt, übernahm man unbesehen deren Geschlechtermodell und projizierte es wie selbstverständlich auch in vorhistorische Zeiten.
Erst die moderne Archäologie brachte ans Licht, dass es Jahrtausende vor den patriarchalen Herrschaftsstrukturen ganz andere Formen des Zusammenlebens gab. So im neolithischen Anatolien in der Stadt Çatal Hüyük 7250-6150 oder in den Grosssiedlungen der Donaukulturen im 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Dort gab es friedliche Kulturen ohne Waffenlager und Verteidigungswälle, mit flacher sozialer Stratifikation bei voll entwickelter Agrarwirtschaft und einer keramischen Gebrauchs- und Sakralkunst von hohem Niveau.
Im Zentrum religiöser Vorstellungen standen weibliche Gottheiten als Schöpferinnen des Lebens und an ihrer Seite der Stier als männliches Sakralsymbol. Die Darstellung von ersten Tempelanlagen, in denen Priesterinnen und Priester Rituale vollzogen, sowie sozial bedeutungsvolle Statuen beiderlei Geschlechts weisen auf eine egalitäre Geschlechterordnung hin. Auch gibt es Anhaltspunkte für matrilineare Sippenstrukturen, wofür die Art der Bestattungen und die Verehrung einer Mutter-Tochter-Gottheit sprechen. Dies rechtfertigt die Annahme, dass wir es mit matrizentrischen Kulturen zu tun haben, nicht im Sinne von Bachofens hypothetischer Gynäkokratie, sondern mit einer hohen sozialen und spirituellen Stellung der Frau bei ausbalancierten Geschlechterbeziehungen ohne Dominanzverhalten.
Bei der von Marija Gimbutas (1991) akribisch dokumentierten Donaukultur, die sich im Nordosten bis in die heutige Ukraine ausdehnte, und im Süden mit den ähnlichen Frühkulturen in Griechenland und einem Teil der ägäischen Inselwelt verbunden war, gab es bereits Vorformen einer Schrift. Auch setzten die weiträumigen Handelsbeziehungen die etablierte Schifffahrt voraus. In diese Blüte früher Hochkulturen drangen ab dem 4. Jahrtausend v. u. Z. patriarchale Hirtenkrieger aus den Steppengebieten nördlich des Kaspischen Meeres ein. Sie zwangen ihnen ihre patrilineare Sippenstruktur, ihre Sprache und hierarchische Verwaltungsstrukturen auf und brachten die Verehrung von männlichen Schöpfer- und Kriegsgöttern mit.
Damit trat ein völlig neues, männliches Identitäts- und Herrschaftsbewusstsein in Erscheinung, das der Mainstream unserer Geschichtsschreibung bis heute für die normale, gewissermassen naturgegebene Gesellschaftsstruktur hält. Die Existenz friedlicher Frühkulturen weist die Geschichtsschreibung mit dem Argument zurück, dass dies zu schön sei, um wahr zu sein. So stand es im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung als Kritik an Harald Haarmanns kulturhistorisch-linguistischem Werk „Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas“, erschienen 2011. Ich vermute das genau Umgekehrte: Für das männliche, kämpferische Identitätsbewusstsein wäre eine friedliche Kultur, wenn wahr, so nicht schön, weil sie dem klassischen männlichen Selbstbewusstsein keinen Raum lässt. Mir scheint es ein Hinweis auf das prekäre Identitätsbewusstsein des Mannes zu sein, das bis in die ersten Existenzformen des Homo sapiens zurückreicht. Bei den so genannten Wildbeutern trugen und tragen bis heute die Sammlerinnen und Jäger in unterschiedlicher Weise zur Ernährung der Gruppe bei.
Rein quantitativ bildet das Sammelergebnis der Frauen und Kinder bis zu 80 % die Grundnahrung für die ganze Gruppe, während die Jagdbeute nur eine zusätzliche, wenn auch sehr begehrte Ernährungsquelle darstellt.
Ethnologische Beobachtungen an heute noch existierenden Wildbeutergruppen werfen ein Licht auf das ursprüngliche Geschlechterverhältnis, wie u.a. die Forschungen Klaus P. Koeppings an den Aborigines in Australien. Er spricht von der natürlichen Bedeutung und sozialen Eingebundenheit der Frau, ja von ihrer „heiligen“ Ausstrahlung aufgrund ihrer lebensgebenden Funktion, während sich der Mann seine soziale Identität erst schaffen musste. Das gelang ihm als Jäger, dessen Ausbeute zwar quantitativ weniger zum Überleben der Gruppe beträgt, doch verliehen ihm die meisterhafte Ausübung seines gefährlichen Handwerks und die Rituale der männlichen Jagdgemeinschaft den Nimbus des Heldischen.
Noch deutlicher wird die kulturell hergestellte Ebenbürtigkeit der Geschlechter bei den heutigen San in der Kalahari Südafrikas. Dort lebt eine selbstverwaltete indigene Restgruppe von ca. 37‘000 Mitgliedern, nachdem sie von den weissen Kolonialisten „Buschleute“ genannt und nahezu ausgerottet worden waren. Die Forschungen der Ethnologin Megan Biesele ergaben ein ebenso eindeutiges wie überraschendes Bild: Die San leben in Wohngemeinschaften zwischen 30 und 50 Individuen, bestehend aus Blutverwandten und eingeheirateten PartnerInnen. Die Verwaltung des Haushalts übernimmt meist ein Schwester-Bruder-Paar, das keine Befehlsgewalt besitzt, sich aber um die Einhaltung gemeinsam aufgestellter Regeln kümmert und bei Konflikten nach Lösungen sucht.
Während früher die Jagd überschätzt und nur von Buschmännern die Rede war, spricht Biesele vom geschlechter-egalitärsten Volk der Welt: Die San-Frauen kennen bis zu 200 essbare und heilkräftige Pflanzen und sammeln daneben auch Kleintiere. So besorgen Frauen den Hauptteil der Nahrung, bestehend aus Kohlehydraten und auch aus Eiweissen. Die San-Männer sind hervorragende Spurensucher von 60 Tierarten und äusserst ausdauernde Schnellläufer, die den Beutetieren so nahe kommen, dass sie sie mit vergifteten Pfeilen erlegen können. Die begehrte Fleischnahrung wird völlig gleichmässig an Männer und Frauen verteilt, denn jegliche Form von Geiz und Übervorteilung gilt als verachtenswert. Der Wetteifer zwischen den Jägern wird auf kluge Weise gedämpft und das Verhältnis zu Nachbarclans friedlich geregelt. Aggressive Szenen gibt es zwischen rivalisierenden Männern um die Gunst einer Frau bzw. aus Eifersucht zwischen Geschlechtspartnern. Dabei ist die Stellung des Mannes insofern prekär, als die relativ einfache Auflösung einer Ehe häufig wegen der Wahl eines neuen Partners durch die Frau erfolgt. Bei Kämpfen zwischen rivalisierenden Männern bzw. den Geschlechtspartnern werden schwere Verletzungen durch das Eingreifen von Verwandtschaftsgruppen verhindert.
Eigentlich brisant sind diese Befunde durch die Erkenntnis der Genforschung, dass es sich bei den San um das genetisch älteste heute noch lebende Volk handelt, dessen Spuren bis in die jüngere Altsteinzeit verfolgbar sind (Siehe „Spiegel“ 21.9.2012). Nur hat bis heute niemand die naheliegende Frage gestellt, ob die Menschen der jungpaläolithischen Kulturen, deren künstlerische Hinterlassenschaften Weltruhm erlangten, ähnlich friedliche und egalitäre Sozialstrukturen besassen. Dies umso mehr, als die berühmten Höhlenmalereien der Eiszeit mit den Felszeichnungen der einst grosse Teile Afrikas besiedelnden San-Vorfahren vergleichbar sind; ein Talent, das sie während der grausamen Kolonialzeit verloren.
Jedenfalls ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass der Krieg keine menschliche Urtatsache ist, denn im gesamten Jungpaläolithikum und während der ersten Hälfte des Neolithikums sind bisher keine Spuren für kriegerische Auseinandersetzungen gefunden worden. Dies entbindet uns allerdings nicht von der Suche nach möglichen Erklärungen dafür, wann und weshalb der Krieger zur Identitätsfigur des Mannes wurde.
Im Fokus steht dabei die Übergangszeit von den Sammlerinnen- und Jägergesellschaften zum sesshaften Ackerbau und zur Viehzucht ab dem 10. Jahrtausend v.u.Z.
Die so genannte neolithische Revolution war ein langer Prozess, der vom „fruchtbaren Halbmond“ Mesopotamiens, Anatoliens und der Levante seinen Ausgang nahm. Unbestritten ist, dass es die Sammlerinnen als Pflanzenkennerinnen waren, die eine bewusste Züchtung von Wildgetreide initiierten, und dass das Frauenkollektiv in der zunächst mit einfachen Werkzeugen bestellten Landbebauung führend war. Nachdem aber die Jagd noch viele Jahrhunderte lang als Ernährungsbeitrag neben dem Ackerbau eine Rolle spielte, blieb die Identität des Mannes als Jäger zunächst erhalten. Erst als diese in den Hintergrund trat, suchten sich Männer neue Betätigungsfelder. Ein sehr wichtiges Feld wurde der Bergbau und der Abbau von Metallen, wie Kupfer, Zinn und später Eisenerz. Bis heute haftet dem „Bergmann“ das Flair besonderer Männlichkeit an.
Ab dem 7. Jahrtausend v.u.Z. wurde die Grossviehzucht, zuerst die Rinderzucht und später die Pferdezucht, zur Männerdomäne, der mehr Prestige zukam als der weiblichen Kleintierzucht von Ziegen und Geflügel. Und mit der Erfindung des von Rindern gezogenen Pflugs um 4500 gewannen Männer als Ackerbauern zusätzlichen Rang in der Gemeinschaft. Dennoch war die Bedeutung der Frau als Sippenmutter, als Schöpferin hoher Keramikkunst und, durch ihre spirituelle Verbindung zur Grossen Göttin, als Priesterin ungebrochen. So können wir davon ausgehen, dass sich in der ersten kulturellen Hochblüte im Nahen Osten und der Donauregion das Geschlechterverhältnis in Balance befand.
Unterschwellig jedoch erhielt das männliche Selbstbewusstsein Auftrieb durch neue biologische Gewissheiten. Vor der Neolithischen Revolution bestand noch kein sicheres Wissen um den Zusammenhang zwischen Zeugung und Schwangerschaft, weil Frauen während der langen Stillzeiten von ca. drei Jahren aufgrund der natürlichen Ovulationshemmung (Verhinderung des Eisprungs) nicht schwanger wurden. Bei der damaligen Lebenserwartung hatten Mütter selten mehr als vier Kinder, was sich mit dem allmählichen Wegfall der Ovulationshemmung veränderte. Die Ursache dafür wird in der reicheren Ernährung vermutet (G. Bott, 2009). Eigentlich wurden die Zeugungsvorgänge erst bei der Rinderzucht offensichtlich, und da ein Stier genügte, um mehrere Kühe trächtig zu machen, fand sich der Mann in seiner Geschlechtsrolle erheblich aufgewertet. Nicht zufällig trat nun der Stier als göttliche Figur neben die Grosse Göttin, und Stiergötter wurden in allen voll entwickelten Agrarkulturen in Eurasien verehrt.
Die zunehmend kürzeren Intervalle zwischen den Geburten führten zur starken Zunahme der Bevölkerung, sodass ab 5000 v.u.Z. die ersten grossen Wanderungen auf der Suche nach neuem Weide- und Ackerland erfolgten. Am spektakulärsten war der Aufbruch der nach ihrem Keramikdekor genannten Bandkeramiker aus dem Donauraum, die auf mit Rindern gezogenen Landschlitten (noch vor Erfindung des Rades) neben ihren Tieren Saatgut, Keramik und fein geschliffene Steinbeile mit sich führten. Auf dem Seeweg über einige Mittelmeerinseln nach Frankreich, auf Flüssen und entlang der Westküste Europas von Portugal über die Bretagne drangen sie bis nach England, Irland, Norddeutschland und Südskandinavien vor. Überall trafen sie auf die alten Wildbeuter-Gemeinschaften, mit denen es aber kaum Konflikte gab, weil die Neuankömmlinge nur den nötigen Raum für ihre Langhäuser, Acker- und Weideflächen aus den riesigen Waldflächen rodeten. Allmählich übernahmen die Sammlerinnen und Jäger die neue Produktionsweise und rodeten ihrerseits Waldflächen, um Ackerbau und Viehzucht zu betreiben.
Die bis heute erhaltene Spur dieser riesigen Wanderbewegungen sind die Megalithbauten in Form von Steinkreisen, Menhiren, Dolmen und Ganggräbern. Am berühmtesten wurden die Anlagen von Newgrange in Irland und Stonehenge in Südwest-England neben den Tempeln auf Malta und Gozo und den Menhiren von Carnac in der Bretagne. Die mit Spiralmustern ungeheuer reich ausgestalteten Tempel und Kollektivgräber sowie die zum Teil weiblich geformten Menhire legen eine nach wie vor matrizentrische Religiosität nahe: Die Dolmen bildeten eine Art künstliche Höhle, die wie ein grosser Mutterschoss die sterblichen Reste der Verstorbenen aufnahm und zur Wiedergeburt vorbereitete (Venceslas Kruta 1993). Die gewaltigen Steinkreise wie in Stonehenge veranschaulichen astronomische Zusammenhänge, wobei der Sonnenstand, Mond und Sterne Hinweise auf Jahreszeiten, Aussaat und Ernte gaben.
Die riesigen, pfeilerartigen Menhire dagegen symbolisierten wohl männliche Macht und Zeugungskraft wie die späteren ägyptischen Obelisken. Auch belegen spätere Megalithgräber ab dem 3. Jahrtausend aufwendige Einzelbegräbnisse für eine hochrangige Elite (Jungsteinzeit im Umbruch, Karlsruhe 2011), was bereits patriarchale Verhältnisse anzeigt.
Über die sozialen Strukturen der wandernden Bandkeramiker wissen wir kaum etwas. Einerseits sprechen ihre Langhäuser für alte Sippentraditionen, hingegen die Steinbeile und erstmalig auftretende Gewalttaten für die starke Stellung der Männer als Führer und Verteidiger der Gruppe. Bei diesen ersten Gewaltakten (zu Talheim bei Heilbronn, um 5100 v.u.Z.) handelte es sich aber noch nicht um kriegerische Auseinandersetzungen. Vielmehr wäre es möglich, dass nachrückende, in Not geratene Bandkeramiker ältere bandkeramische Siedler überfallen und erschlagen haben, um an deren Vorräte zu kommen (A. Eich, 2015))
Jedenfalls hatten die Frauen durch den Verlust ihrer Heimat und dem einst weiblich-kollektiven Landbesitz sowie aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit auf den langen Reisewegen an sozialer Bedeutung verloren. Dies umso mehr, als die Männer auch die Schifffahrt organisierten und mit seetauglichen Booten auf Flüssen und entlang der Atlantikküste die Verkehrswege erschlossen. Neben dem Hirten und dem Steinbeil bewehrten „Pfadfinder“ wurde nun auch der Seemann zur männlichen Identitätsfigur, was sich bis in die Neuzeit, u.a. im legendären See-Piratentum fortsetzte.
Vieles spricht dafür, dass die alte matrizentrische Sippenordnung im Laufe der grossen Wanderungen allmählich geschwächt und von patriarchalen Familienstrukturen abgelöst wurde. Das bedeutet Dominanz der Männer über Frauen und Kinder und die angestrebte Kontrolle darüber, dass die Kinder vom Ehemann gezeugt sind. Damit verbunden sind eine erste unterschwellige Frauenfeindlichkeit und die zornige Einforderung männlicher Rechte, die dem Mann aufgrund seiner neuen sozialen Stellung und seines erhöhten Selbstbewusstseins zustünden (Gerhard Bott 2009).
Es gibt aber noch einen zweiten Grund für den kulturellen Umbruch am Ende des vierten und am Beginn des 3. Jahrtausends, ausgelöst durch dramatische Klimaveränderungen. Um 10‘000 v.u.Z. waren die Sahara, die arabische Halbinsel und weite Gebiete nördlich des kaspischen Meers noch grüne Flächen mit fruchtbaren Böden, die zunehmend versteppten und zu Halbwüsten austrockneten. Dies zwang Bauern und Rinderhirten zu nomadisierender Pastoralwirtschaft und schliesslich zum gewaltsamen Eindringen in fruchtbare, hoch entwickelte Ackerbaukulturen.
So eroberten die Sumerer, deren Herkunft bis heute unbekannt blieb, die südmesopotamischen Städte der Ubed (Ubaid)- Kultur. Deren hoch entwickelte Tempelwirtschaft mit flachen hierarchischen Strukturen nach innen und friedlichen Absichten nach aussen war für die Sumerer eine leichte Beute, nachdem sie mit von Onagern (Eseln) gezogenen Streitwagen und Bronzewaffen in die unbefestigten Stadtstaaten eindrangen. Sie ersetzten die bisherige Verwaltung von Priesterinnen und Priestern durch ein patriarchales Königtum, das die Gesellschaft in Sieger und Besiegte spaltete und erste Formen der Sklaverei entstehen liess. Im Laufe des 3. Jahrtausends v.u.Z. kam es dann zwischen den Königen der eroberten Stadtstaaten zu Rivalitätskriegen, wofür die mächtige Mauer um die Stadt Uruk und die so genannte Geierstele, auf der man die erschlagenen Feinde den Geiern zum Frass überlässt, Zeugnis ablegen.
Entstanden Kriege ursprünglich aus existentieller Not, so wurden sie nun zu einem Feld männlicher Selbstbestätigung und Tugend, wofür auch das Gilgamesch-Epos spricht. Dabei verdeckt die Härte und Grausamkeit des Kriegers die verdrängte Erfahrung von Ohnmacht. Dass sich der Zorn der frühen Krieger auch aus der Enttäuschung über die erfahrene Grausamkeit vonseiten der „Mutter Natur“ nährt, bringt uns ein Kampflied altkurdischer Hirtenkrieger eindrücklich nahe:

Du aber erhebe dich
Da die Quellen versiegt,
das letzte Grün des Grases verbrannt,
die zerrissene Krume verdorrten Bodens,
des Ackers fruchtbare Decke als Staub
durch den Gluthauch des Windes
emporgewirbelt Wolken bildet,
spürst du die Ohnmacht,
siehst das verendende Tier,
hörst das Weinen der Kinder,
und deine Fäuste
schaffen nicht Wasser,
geben den Gräsern nicht Leben,
schützen nicht die fruchtbare Erde des Ackers
vor dem Gluthauch des Windes.
Zweifelst du?
Schreit dein Herz nicht in Zorn
vor dem Tag –
Vergeblich duckt sich das Tier,
geduldig das Sterben erwartend,
du aber erhebe dich!
(Abbas Hilmi 1964)

Der Vertrauensverlust gegenüber der grossen Mutter-und Schöpfungsgöttin findet seinen Widerschein in der Dämonisierung der Urmutter Tiamat. Unter der babylonischen Vorherrschaft Südmesopotamiens entsteht der Mythos vom jungen Sonnengott Marduk, der Tiamat brutal niederstreckt, ihren Leib in zwei Teile zerreisst und daraus Himmel und Erde erschafft. Dies ist der Gründungsmythos der patriarchalen Theologie, der sich später in der griechischen Mythologie wiederfindet, wenn Perseus die Göttin Medusa tötet und sich die olympischen Götter zu Herrschern des Universums erklären. Auch Gilgamesch, der sagenhafte sumerische König von Uruk, tritt in seinem berühmten Epos voller Zorn der Göttin Ischtar entgegen und beschimpft sie als Hure, weil sie sich bei der Wahl ihrer Liebhaber frei fühlt und dies der patriarchalen Vorstellung von ehelicher Treue zu wider läuft.
Die Heldenverehrung des Kriegers schliesst von Beginn an eine unübersehbare Frauenverachtung ein, wenn Vergewaltigung und der sexuelle Missbrauch von Sklavinnen zum unausgesprochenen Lohn der todesmutigen Kämpfer gehören. In der Folge wird die gewerbsmässige Prostitution in eigens dafür geschaffenen Bordellen zur offiziellen Einrichtung, in welcher sich verarmte Frauen ihren Lebensunterhalt, wenn auch eine verachtete Existenz schufen (Gerda Lerner 1991).
Für das Alte Europa tritt die entscheidende Wende durch den Einfall von Pferde züchtenden Hirtenkriegern ein, die aus den Steppen nördlich des kaspischen Meeres nach Süden und Südwesten zogen. Ein Teil von ihnen überrannte als „Arier“ die hochentwickelten Induskulturen, ein anderer eroberte in mehreren Wellen die Alten Donaukulturen im Südosten Europas.
Marija Gimbutas (1991) spricht von Kurgan-Migration, abgeleitet von den als Kurgane bezeichneten Hügelgräbern, die den Weg der Landsuchenden markieren. Dabei handelt es sich um aufwändige Grabstätten für hochrangige Männer, die man mit ihren Waffen, - Bronzedolche, Speere, Pfeil und Bogen -, mit pferdeköpfigen Zeptern und mit Skelettresten geopferter Pferde beigesetzt hatte.
Mehrfach fand sich auch die erschreckende Sitte des Sati, also die Opferung und Mitbestattung der Witwe an der Seite des Kriegers.
Die erste Welle der Kurgan-Migration mit von Pferden gezogenen Streitwagen traf um 4400 im Gebiet der heutigen Ukraine ein. Die zweite Welle um 3500 überrannte die bedeutendsten Donaukulturen, um sie von auf Hügeln errichteten Befestigungen aus zu beherrschen. Die Sieger zwangen den Unterworfenen patriarchale Verwaltungsstrukturen und die indoeuropäische Sprache auf und überliessen ihnen die Sicherstellung der Ernährung und das Handwerk.
Die dritte Welle ab 3000 v.u.Z. führte zur Verdrängung bzw. Auswanderung eines Grossteils der angestammten Bevölkerung aus Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien und Ungarn nach Nordwest- und Nordost-Europa. Diese Auswanderer brachten die indoeuropäische Sprache und neue religiöse Symbole mit, sodass sich eine Mischkultur zwischen zwei ganz verschiedenen spirituellen Prägungen bildete.
Ab 2000 v. u. Z. fielen indoeuropäische Gruppen mit Streitwagen und als Reiterkrieger in Griechenland, auf die ägäischen Inseln und in Kreta ein. Zuerst kamen die Achäer, später die Dorer, die einen Grossteil der Sesklo-und Dimitri-Kultur zerstörten, die wie auf Kreta matrizentrisch geprägt war und bereits kleine Städte- unter anderem das alte Athen – besass (F. Schachermeyr 1979). Die mykenische Übernahme der kretischen Palastkultur zeigt aber auch, dass sich die Eroberer von den vorgefundenen Bauten und Kunstwerken beeindrucken liessen. Zudem setzt sich der Götterhimmel Griechenlands aus Elementen beider Traditionen zusammen, der erst von Hesiod um 700 v.u.Z. zugunsten der Olympier hierarchisiert wurde.
Die griechischen und später auch die römischen Herrscher, die ein Heer von Sklavinnen und Sklaven geschaffen hatten, waren sich sehr wohl bewusst, dass sie ihre Macht nur mit militärischer Stärke bewahren konnten. Dabei befanden sich beide, Herrscher und Beherrschte, in einem ambivalenten Zustand von Angst und Zorn: Die Oberen in nervöser Erwartung von Unbotmässigkeit und Aufständen, die sie als Kränkung empfanden und brutal niederwarfen; die Unteren mit zornig geballten Fäusten, mit denen sie aus Angst vor Vergeltung nicht wagten, loszuschlagen.
Im Mittelalter übernahm die Kirche die Rolle der brutalen Einschüchterung, die ihren Höhepunkt in den pathologisch zu nennenden Hexenprozessen fand. Wenig später brachten die Kolonialkriege und parallel dazu die Zwangschristianisierung eine nie dagewesene Demütigung indigener Volksgruppen in aller Welt. Ihre „Offenen Adern“ (E. Galeano 1973) hinterliessen tiefe Ressentiments und Hassgefühle gegen die weissen Eroberer. Auch nach der so genannten Entkolonialisierung war die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Industriestaaten umso ernüchternder, was ja die grossen Flüchtlingsbewegungen in die reichen Länder mit verursacht hat.
So ist für das gegenwärtige Zeitalter des Zorns vor allem eines typisch: Die Verwirrung beziehungsweise die Verwechslung von Ursachen und Wirkungen, deren Lösung nur eine selbstkritische Aufarbeitung der europäischen Geschichtsvergessenheit voranbringen könnte. Noch ist davon wenig zu spüren, sodass Mishras Analyse pessimistisch endet.
Ich selbst bin der Überzeugung, dass erst der auf seine Wurzeln zurückgeführte und in seinen Konsequenzen zu Ende gedachte Geschlechterkampf eine profunde Aufklärung der historischen Ressentiments ermöglicht (Carola Meier-Seethaler 2011). Seit Jahrzehnten ist zwar von Gleichberechtigung die Rede und für die Frauen viel erreicht worden. Im Gegensatz dazu befindet sich die Emanzipation der Männer noch in spärlichen Anfängen und wird von der Angst vor weiblicher Konkurrenz zusätzlich gebremst.
Wenn wir davon ausgehen, dass sich der Mann in der menschlichen Frühzeit als das „andere Geschlecht“ erlebte, und er seine Stellung in der Gemeinschaft und seine geschlechtsspezifische Identität erst finden musste, so erstaunt es nicht, dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht immer spannungsfrei verlief. Dabei ist das Streben nach Dominanz als Versuch zu verstehen, eigene oder kollektive Selbstunsicherheit mit Überlegenheitsansprüchen zu kompensieren. Dies ist durch Herrschaftssysteme und deren ideologischem Überbau auch hervorragend gelungen.
Dennoch blieb die physische und psychische Abhängigkeit vom weiblichen Geschlecht bestehen und nahm infolge der ersten industriellen Revolution im ausgehenden 19. Jahrhundert noch zu: Aufgrund der Trennung von Arbeitsort und Wohnort bei gleichzeitiger Schrumpfung zur Kleinfamilie wurden Kinder beiderlei Geschlechts während der ersten Lebensjahre fast ausschliesslich von ihren Müttern betreut. Das bedeutet für den Knaben, dass seine emotionale Identifikation mit der Mutter zum Hindernis für seine Selbstfindung als männliches Wesen gerät. Er muss von ihr Distanz nehmen, weil er nicht nur erwachsen, sondern ein anderer Erwachsener werden soll. Und solange die emotionale Identifikation mit dem meist abwesenden Vater fehlt, entsteht die Definition des Männlichen als Gegensatz zum Weiblichen, und dazu muss das Emotionale zugunsten von Rationalität, Leistungsehrgeiz und Wettbewerb verdrängt werden (Dorothy Dinnerstein 1979).
Die seither nicht überwundene Fixierung auf die Geschlechterpolaritäten mit Blick auf Charaktereigenschaften und Rollenzuweisungen erhält den Status Quo: Männer verschreiben sich weiterhin dem tödlichen Wettbewerb, während Frauen vor der unlösbaren Aufgabe stehen, ihre Verwirklichung im Beruf mit den Aufgaben als Mutter zu verbinden. Eine grundsätzliche Wende sehe ich nur, wenn es gelingt, ein neues Männerbild und eine erweiterte Selbstidentifikation für den Mann zu schaffen, wie es sich in Gestalt der Neuen Väter abzeichnet.
Für die jungen Väter ist ein mindestens 3-monatiger Vaterschaftsurlaub erst eine bescheidene Voraussetzung, die es ihnen erlaubt, ihre Kinder vom ersten Lebenstag an aktiv mit zu pflegen und eine innige Beziehung zu ihnen aufzubauen. Dies ist insofern „artgerecht“, als das Menschenkind aufgrund seines grossen Hirnumfangs als einziges in der Säugetierreihe als zu früh geborener Fötus auf die Welt kommt. Der Biologe Adolf Portmann (1941) hat die ca. 11 Monate, die das Baby gegenüber seinen Tierverwandten im Rückstand ist, die extrauterine Tragzeit genannt. Sie kann vom Vater ebenso wahrgenommen werden wie von der Mutter und dauert sogar länger als die intrauterine Schwangerschaft. Selbst „Lebensträger“ zu sein, würde für den Mann das Gefühl des Ausgeschlossenseins aus dem Prozess des werdenden Lebens aufheben und zugleich eine breitere Basis für seine Selbstidentifikation schaffen.
Tatsächlich erleben dies Neue Väter als eine grosse Bereicherung, ganz abgesehen davon, dass sie damit den Müttern den Weg zur Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit eröffnen. Für die Kinder besteht der wesentliche Vorteil darin, dass sie sich mit Mutter und Vater emotional identifizieren können und damit Mädchen und Knaben eine selbstverständliche Identitätsfigur besitzen.
Allerdings hat die „reziproke Elternschaft“ erst dann gesamtgesellschaftliche Auswirkungen, wenn die zeitlich unbegrenzte egalitäre Arbeitsteilung zur allgemeinen Norm wird. Das würde nicht nur das alte Schema vom Familienernährer aufheben, sonders das Selbstverständnis der Gesamtwirtschaft verändern. Das Gemeinwohl und die Care-Ökonomie erhielten viel grösseres Gewicht, was die Fixierung auf Profitmaximierung ebenso infrage stellt wie den angeblich unaufhaltsamen technischen Fortschritt.
Joseph Weizenbaum (1987) hatte die atomare Aufrüstung und den Raubbau an natürlichen Ressourcen den „Kurs auf den Eisberg“ genannt. Heute müssen wir uns fragen, wohin uns die Anwendung von künstlicher Intelligenz noch führen wird. Müssen wir die extreme Roboterisierung und Digitalisierung von Produktion und Infrastruktur und damit auch die Entsinnlichung mitmenschlicher Kommunikation einfach hinnehmen? Das hiesse, den technischen Fortschritt als unabänderlichen Selbstläufer zu akzeptieren, statt jede Innovation als Produkt menschlicher Zwecksetzung zu verstehen und mit der Sinnfrage zu verbinden, ob sie dem humanen Zusammenleben und dem Leben auf dem gesamten Planeten förderlich ist. Diese Fragestellung abzublocken, wäre geradezu eine Bankrotterklärung der menschlichen Vernunft.
Wenn wir jedoch erkennen, dass der blinde Glaube an den technischen Fortschritt mit der männlichen Identitätsfindung verquickt ist, könnte dies zu einem Umdenken führen. Sobald sich Männer im familiären Haushalt und für das gesunde Aufwachsen der Kinder ebenso engagieren wie für den öffentlichen Haushalt, würde der wirtschaftliche Standortvorteil technischer Höchstleistungen relativiert. Ihre Perspektive wäre dann nicht mehr einseitig darauf gerichtet, wie sich Heranwachsende an die Bedürfnisse der hochtechnisierten Wirtschaft anzupassen haben, sondern ebenso darauf, ob die Wirtschaft ihrer eigentlichen Aufgabe entspricht, die physischen und psychischen Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, statt immer neue Konsumbedürfnisse zu schaffen.
Unterstützt wird diese Perspektive von hochrangigen Ökonomen, die eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich beklagen und das Dogma von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes im Sinne des automatischen Ausgleichs grundsätzlich infrage stellen (Thomas Piketty 2014).
Die unmittelbare Lebenswahrnehmung und Lebensfürsorge der Neuen Väter verbreitert die Basis der männlichen Identität und schärft den Blick für fundamentale Systemkritik. Es ist eine Frage der kritischen Masse, bis junge Männer ihre Einforderung familiengerechter Arbeitszeiten politisch durchsetzen. Emanzipierte Männerbewegungen könnten dann, zusammen mit Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen, eine echte Zivilgesellschaft bilden.

Literatur:

- Badisches Landesmuseum, Karlsruhe: Jungsteinzeit im Umbruch. Mitteleuropa vor 6000 Jahren. Karlsruhe 2011
- Biesele, Megan: !Kung Healing. The Symbolic of Sex Roles and Culture Change. In: M. Biesele, R. Gordon, R. Lee: The Past and the Future of !Kung Ethnography. Hamburg 1986
- Bott, Gerhard: Die Erfindung der Götter. Essays zur politischen Theologie. Norderstedt 2009
- Dinnerstein, Dorothy: Das Arrangement der Geschlechter. Stuttgart 1979
- Eich, Armin: Die Söhne des Mars. Eine Geschichte des Krieges. München 2015
- Fromm, Erich: Anatomie der menschlichen Destruktivität. In Gesamtausgabe, Stuttgart 1980
- Galeano, Eduardo: Die offenen Adern Lateinamerikas. Wuppertal 1973
- Gimbutas, Marija: The Civilization of The Goddess. The World of Old Europe. San Francisco 1991
- Haarmann, Harald: Das Rätsel der Donauzivilisation. München 2011
- Hilmi, Abbas: Altkurdische Kampf- und Liebeslieder. München 1964
- Koepping, Klaus-Peter: Australier(Arnhem-Land). In: Müller, Klaus, E.(Hg.): Menschenbilder früher Gesellschaften. Frankfurt 1983
- Kruta, Venceslas: Die Anfänge Europas 6000 – 500 v.Chr. München 1993
- Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats. Frankfurt 1991
- Meier-Seethaler, Carola: Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie. Stuttgart 2011
- Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014
- Portmann, Adolf: Die biologische Bedeutung des ersten Lebensjahres beim Menschen. In: Medizin. Wochenzeitschrift 71, 921-1001, 1941
- Schachermeyr, Fritz: Ursprung und Hintergrund der griechischen Geschichte. In: Propyläen Weltgeschichte, Bd. III, Gütersloh 1979
- Weizenbaum, Joseph: Kurs auf den Eisberg. Die Verantwortung des Einzelnen und die Diktatur der Technik. München 1987

Der schräge Feminismus

[28.08.2017]

Queer- der schräge Feminismus

Seit einiger Zeit geistert die Zauberformel LGBTI durch alle Medien und wird zur Pflichtübung der political correctness, sobald die Gleichstellung von Frauen und Männern angesprochen wird.
Initiantinnen dafür sind die Gender-Theoretikerinnen an allen deutschsprachigen und nordeuropäischen Universitäten; die Grundlage dazu die feministische Queer-Theorie, die seit Judith Butlers „GenderTrouble“ alle bisherigen feministischen Theorien für überholt erklärt. Die Queer-Theoretikerinnen verdrängen bzw. ignorieren sowohl die Standardwerke von Simone de Beauvoir und Elisabeth Badinter als auch diejenigen von Ökofeministinnen und von Kulturhistorikerinnen, die sich mit egalitären, matrizentrischen Kulturen und deren gewaltsamen Ablösung durch patriarchale Herrschaft befassen.
Den einzig legitimen Ausgangspunkt sieht die Queertheorie in der Destruktion des dualen Geschlechtersystems, das heisst in der Leugnung naturgegebener Geschlechtsidentitäten. Stattdessen will sie den Nachweis erbringen, dass Geschlechtsunterschiede kulturell konstruiert seien und von daher auch dekonstruierbar bzw. relativierbar.
Wie uns die gegenwärtige Londoner Ausstellung „Queer British Art“ belehrt, war der Ausdruck „queer“ („seltsam, komisch, schräg“) ursprünglich ein Synonym für Homosexuelle, die sich bis vor kurzem verbergen mussten, um nicht verfolgt zu werden.
Wenn nun die neue Formel neben L für Lesbisch, G für Gay (schwul) und B für Bisexuell noch das T für Transsexuell bzw. Transgender und I für Intersexuell stellt, so macht diese Reihung insofern Sinn, als alle diese Gruppen in vielen Teilen der Welt noch immer diskriminiert oder sogar Strafverfolgungen ausgesetzt sind. Demgegenüber steht die Forderung, die vom Mainstream abweichenden sexuellen Orientierungen nicht als pathologisch einzustufen.
Verwirrung entsteht jedoch dann, wenn Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung nicht klar unterschieden werden. Wenn also Homosexualität und Bisexualität nicht nur als vom Mainstream abweichende sexuelle Orientierungen gesehen, sondern als 3. oder 4. Geschlecht bezeichnet werden. In Wahrheit fühlt sich die weit überwiegende Mehrzahl der schwulen Männer als Männer, die Männer lieben, und Lesben als Frauen, die Frauen lieben bzw. als Menschen, die sich von beiden Geschlechtern sexuell angezogen fühlen. Schon Freud nahm eine latente bisexuelle Orientierung für beide Geschlechter an, ohne das Faktum der Geschlechterdualität in Frage zu stellen.
Am Unhaltbarsten erweist sich die Queer-Theorie mit ihrer Ignoranz der Evolutionstheorie: Nicht davon Kenntnis zu nehmen, dass sich die Evolution seit Hunderten von Millionen Jahren der Zweigeschlechtlichkeit bedient, um den Genaustausch bei der Fortpflanzung und damit die Artenvielfalt hervorzubringen, ist sträflich unwissenschaftlich.
Ebenso verwirrend ist die queer-theoretische Interpretation von Intersexualität, Transsexualität und Transgender. Tatsächlich gibt es, wenn auch selten, Personen, denen bei ihrer Geburt weder das weibliche noch das männliche Geschlecht eindeutig zuzuordnen ist. Heute erkennt man es als Fehler mit schwerwiegenden psychischen Folgen, wenn man schon beim Kleinstkind chirurgische Eingriffe vornimmt, um ein eindeutiges weiblichen oder männliches Geschlecht herzustellen. Stattdessen werden mit vorpubertierenden Jugendlichen vertiefte Gespräche geführt, um gemeinsam eine je optimale Lösung- etwa durch hormonelle Behandlung - zu finden.
Queer-TheoretikerInnen lehnen es ab, Intersexualität als Entwicklungsstörung bzw. als einen unabgeschlossenen sexuellen Reifungsprozess anzuerkennen, weil dies eine Pathologisierung von Intersexuellen bedeute. Vielmehr sei jede Form von Intersexualität als eine genuine, mit anderen Geschlechtern gleichwertige Geschlechtskategorie zu akzeptieren.
Extrem formuliert: es gibt nicht zwei Geschlechter, sondern so viele Geschlechter wie es Individuen gibt.
Nicht weniger einseitig sind manche Kommentare zur Transsexualität und zu Transgender. Zwar gibt es, wenn auch selten, Knaben mit einem gesunden männlichen Geschlechtskörper, die sich von klein auf nach einer weiblichen Identität sehnen, und umgekehrt Mädchen, die eine männliche Identität wünschen. Das kann zu einer so verzweifelten Krise führen, dass als Lösung nur die chirurgische Geschlechtsumwandlung zu bleiben scheint. Die Ursachen dafür sind bis heute nicht bekannt und wahrscheinlich sehr komplex. Jedenfalls lässt sich Transsexualität nicht mit der esoterisch anmutenden Vorstellung erklären, die eigene Seele wohne im falschen Körper.
Ähnlich, aber nicht damit gleichzusetzen, ist der Begriff Transgender. Auch er meint, dass sich Menschen psychisch nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, welches ihre Geburtsurkunde ausweist. Doch streben sie keine physische Angleichung an das andere Geschlecht an, sondern erklären sich durch Änderung ihres Vornamens als Transfrauen (Männer, die in ihrem sozialen und beruflichen Umfeld als Frauen auftreten) oder als Transmänner (Frauen, die sich als Männer verstehen und männliche Tätigkeiten bevorzugen). Beides muss nicht mit auffälligem Transvestismus verbunden sein.
Die heutige Queer-Szene und ihre offiziellen Vereinigungen stellen „Transgender“ in den Mittelpunkt ihrer Diskussion und verlangen die rechtliche Möglichkeit zur Änderung des Namens und des Zivilstandes ohne medizinisches oder psychiatrisches Gutachten. Entscheidend sei einzig, welche Geschlechtsidentität man individuell fühle. In diesen Zusammenhang gehört die Wortbildung Cis-Gender, was den von „Transgender“ abgeleiteten Zustand der durchschnittlichen Mehrheit markiert. Manchmal mit einem etwas mitleidigen Unterton gegenüber den mindestens 95 % der Bevölkerung, die sich immer noch fraglos mit dem Geschlecht ihrer Geburtsurkunde identifizieren. Auf diese Art entsteht so etwas wie ein Trend zur Befürwortung von Transgender oder für Jugendliche der Eindruck, Transgender sei „in“.
Ich halte diesen Trend für ein zentrales Missverständnis. Seit Simone Beauvoirs revolutionärem Werk „Das andere Geschlecht“, sollte die Erkenntnis Allgemeingut sein, dass die Geschlechtsrollen der Frau nicht angeboren sind, und sie im diesem Sinne erst zur Frau gemacht wird. Das Gleiche gilt für den Mann, der erst durch das ihm aufgedrängte Rollenklischee das gesellschaftlich bedingte Männerbild erfüllt. Was heisst, dass die polarisierenden Zuordnungen bestimmter Fähigkeiten und Charaktereigenschaften an das weibliche und an das männliche Geschlecht eine ideologische Konstruktion darstellen: Frauen seien schwach, reproduktiv, passiv, gefühlsbetont und labil; Männer dagegen stark, kreativ, aktiv, rational und konsequent, was sie „von Natur aus“ zur Herrschaft über die Frauen bestimme.
Die Dekonstruktion dieser Gender-Polarisierung gab den Auftakt zur Emanzipation der Frauen, die längst bewiesen, dass sie ebenso intelligent, kreativ und willensstark sein können wie Männer. Und, mit grosser Verspätung, zur Emanzipation des Männerbildes, wonach Männer ebenso sensibel, gefühlsfähig und zur Fürsorge geeignet sind wie Frauen.
Von daher bestünde also kein Grund, weshalb sich eine aussergewöhnlich starke Frau „transgendern“ sollte, denn sie kann ihre Tatkraft als Rennfahrerin, als Extrembergsteigerin oder in einem anderen Beruf realisieren, den man lange den Männern vorbehielt. Umgekehrt kann sich ein gefühlsbetonter, allem Lebendigen zugewandter Mann als Künstler, Sozialarbeiter oder Tierpfleger verwirklichen.
Bei genauerem Hinsehen ist der Trans-Gender–Pfad eine Rückkehr zu biologisch-sexistischem Denken, das mit der psychisch-geistigen Egalität der beiden Geschlechter nicht ernst gemacht hat. Dazu kommt die dem neoliberalen Zeitgeist entsprechende Privatisierung aller Probleme, bei der die Kritik am patriarchalen Gesamtsystem als dem Kerngeschäft des Feminismus unter den Tisch fällt. Dabei ist es gerade das Hochjubeln von Leistungssteigerung, Gewinnmaximierung und Konkurrenzkampf, was der Emanzipation beider Geschlechter entgegensteht, indem die Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf verunmöglicht wird.
So verdrängt der gegenwärtige akademische Feminismus unsere eigentlichen politischen und kulturellen Probleme, wenn seine Vertreterinnen wie gebannt den Blick auf Gender-Fragen und den Einbezug von Minderheiten reduzieren. So, wenn sie uns vorschreiben wollen, die Worte Frau* und Mann* nur noch mit Sternchen zu schreiben, um den wenigen Inter-und Transsexuellen Raum zu geben und das von der grossen Mehrheit als selbstverständlich empfundene Geschlecht zu relativieren. Das verleiht, - als kontraproduktiver Nebeneffekt - den reaktionären Kräften Auftrieb, die das überholte, patriarchale Familienmodell neu beschwören.
Wünschenswert sind neue Familienmodelle mit gleichgewichtiger Elternschaft, Patchwork-Familien, eingetragene Partnerschaften für homosexuelle Paare und Adoptionsmöglichkeit für mitgebrachte Kinder eines Partners oder Partnerin, sowie die Toleranz gegenüber Scheidungen bei Aufrechterhaltung der Elternrechte und -pflichten.
Allerdings halte ich nichts von der bedingungslosen Einforderung aller Lebensmöglichkeiten für jedes Individuum. Aus meiner Sicht gibt es kein Recht auf ein eigenes Kind, und zwar weder für heterosexuelle noch für homosexuelle Paare, wenn der Preis dafür Leihmutterschaft oder der Einkauf von Ei-und Samenzellen Ist. Es gibt nur das Recht aller geborenen Kinder auf Geborgenheit in einem stabilen familiären Umfeld.

 

Ehe für alle

[10.07.2017]

Was verbirgt sich hinter dieser Forderung, die mit grossem finanziellem Aufwand medienwirksam vorangetrieben wird? Kaum jemand scheint sich diese Frage zu stellen in der gutgläubigen Annahme, dass es sich dabei ausschliesslich um die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften handle. Die ist zwar überfällig, doch dafür würde die „eingetragene Partnerschaft“ genügen, wie sie in vielen westlichen Ländern bereits praktiziert wird, einschliesslich der Möglichkeit, Kinder zu adoptieren. Allerdings ist der Begriff Adoptions-Recht dann fragwürdig, wenn er als individueller Rechtsanspruch verstanden wird. Auch kinderlose heterosexuelle Paare haben keinen Rechtsanspruch auf ein Adoptivkind, denn es geht ja in erster Linie darum, für ein Kind das bestmögliche familiäre Umfeld zu finden. Und da heute der grossen Zahl unfreiwillig kinderloser Paare nur eine kleine Anzahl zur Adoption freigegebener Kleinstkinder gegenüber steht, ist die Chance für alle Adoptionswilligen gering, dass ihr Wunsch in nützlicher Zeit in Erfüllung geht.
Warum aber das hartnäckige Beharren auf dem Begriff „Ehe“ für alle? Die Institution der Ehe stammt ja aus dem sakralen Bereich und gilt im christlichen Verständnis als Sakrament, d.h. als heiliger Akt zur Familiengründung. Daran geknüpft war die Verpflichtung zur lebenslangen Bindung: “Bis dass der Tod Euch scheidet“. In unserer liberalen Gesellschaft hat sich diese Auffassung längst verändert, wenn heute über 40 % aller Ehen geschieden werden. Auch ist die kirchliche Trauung für viele nur noch festliche Umrahmung, wie auch nur ein Teil der homosexuellen Paare sich vor dem Altar das Ja-Wort geben möchte.
Von daher gesehen wäre es eigentlich realistischer, die „eingetragene Partnerschaft für alle“ zu postulieren, wie sie ja mit der standesamtlichen Trauung bereits vorgezeichnet ist. Es muss also andere Gründe dafür geben, auf dem Eherecht für homosexuelle Paare zu beharren. Der entscheidende Punkt ist wohl das angebliche Recht auf eigene leibliche Kinder, dessen Realisierung die hochentwickelte Reproduktionstechnologie in Aussicht stellt und die bisher nur von heterosexuellen Paaren in Anspruch genommen werden kann. Das heisst: in Zukunft sollen homosexuelle Paare das Anrecht auf künstliche Befruchtung mittels gespendeter oder gekaufter Samenzellen, Eizellen und Embryonen bzw. auf die immer offener propagierte Leihmutterschaft haben, wobei letztere in der Schweiz noch verboten ist.
Alle diese Verfahren sind äusserst kostspielig, wobei der erzielte Profit hauptsächlich den Eizellen- Samen- und Embryonenbanken, den Reproduktionsmedizinern, Vermittlungsagenturen und Rechtsanwälten zufällt, während die SpenderInnen und die von Armut getriebenen Leihmütter relativ bescheiden entlohnt werden. Im Lichte dieser Tatsachen ist es nicht verwunderlich, wenn die Reproduktions-Lobby alles daran setzt, um die „Ehe für alle“ im allgemeinen Bewusstsein und in politischen Kreisen akzeptabel zu machen. Einmal mehr sollen nachvollziehbare humane Bedürfnisse die materiellen und prestigeträchtigen Beweggründe kaschieren.
Auch die Eile, mit der dies geschieht, ist verdächtig. Sie verhindert die dringend nötige breite Diskussion über die Folgen der Reproduktionstechnologien für auf diese Weise entstandene Kinder wie auch für die Gesellschaft als Ganzer. So die Frage, wie Heranwachsende damit zurechtkommen, mehrere Mütter oder zwei Väter zu haben und nicht alle genetischen Elternteile zu kennen. Oder was es bedeutet, wenn durch hoch eingeschätzte Samenspender Hunderte von Kindern gezeugt werden, die als Halbgeschwister in aller Welt leben mit dem Risiko, aus Unkenntnis inzestuöse Beziehungen einzugehen. Nicht zuletzt ist Leihmutterschaft ausserordentlich problematisch und moralisch nicht zu rechtfertigen.
Es scheint, die langjährige Kritik am unbegrenzten Machbarkeitsanspruch der Reproduktionstechnologie (siehe Basler Appell gegen Gentechnologie, heute biorespect) werde von der heutigen Linken politisch nicht ernst genommen, weil auch sie auf der Welle rein individueller Problemlösungen reitet.

 

Das Märchen vom ältesten Gewerbe der Welt - Zum Phänomen der Prostitution aus kulturhistorischer Sicht

[Juni 2015]

Das Gerede von der Prostitution als dem ältesten Gewerbe der Welt  setzt ein sehr kurzes historisches Gedächtnis voraus. Es ist daran zu erinnern, dass die Kulturgeschichte des Homo sapiens mindestens 40 000 Jahre alt ist. Schon aus der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum),  als die Menschen vom Sammeln und Jagen lebten, sind grossartige Kunstwerke in Form von Höhlenmalereien und Kleinplastiken erhalten. In der anschliessenden Jungsteinzeit (Neolithikum) seit 10 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung entstanden mit der sesshaften Landwirtschaft Grosssiedlungen und erste Städte (Jericho, Catal Hüyük ) und damit auch handwerkliche Spezialberufe. Grundlage waren die Metallgewinnung und die Keramikherstellung und der weiträumige Handel mit Rohstoffen und Fertigprodukten.

So können wir schon sehr lange vor der ersten Münzprägung (im 7. Jh. v. Chr.) von speziellem Gewerbe sprechen, während die Prostitution als erwerbsmässige Tätigkeit Jahrtausende jünger ist.

Den entscheidenden Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte bildet das Aufkommen von Eroberungskriegen in den ersten drei Jahrtausenden  vor unserer Zeitrechnung und die damit verbundene Unterwerfung bereits bestehender, hoch entwickelter Kulturen. Ursprünglich waren solche Übergriffe durch Raumnot  motiviert,  durch klimabedingte Versteppung der Herkunftsländer bei gleichzeitiger Zunahme der Bevölkerung. Erst der auf langen Wanderungen entstandene Kriegeradel machte aus der Not eine Tugend:  kriegerische Gewalt um Landgewinn, Beute und Herrschaft wurden zum Selbstzweck und führten schliesslich zur Errichtung immer grösserer Imperien.

Im dritten vorchristlichen Jahrtausend lassen sich Formen von Sklaverei in Mesopotamien und im Alten  Ägypten nachweisen, wo Kriegsgefangene und Unterworfene  als Zwangsarbeiter in Minen, in  Manufakturen, in der Landwirtschaft und als Haussklaven der herrschenden Oberschicht dienten. Unter den Letzteren befanden sich besonders viele Frauen, die nicht nur niedere Arbeiten verrichteten, sondern  auch als Sexobjekte missbraucht wurden.

Wie die Historikerin Gerda Lerner (1991) nachweisen konnte, liegt der Ursprung der  Prostitution eindeutig in der Sklaverei, als  im Laufe des 2. vorchristlichen Jahrtausends gewinnsüchtige Herren ihre Sklavinnen in dafür eingerichtete Bordelle verschacherten oder die Töchter der verarmten  Bauern von ihren Vätern  aus purer Existenznot an städtische Einrichtungen verkauft wurden. Von Prostitution als  einer Art selbständigem Gewerbe kann erst viel später im antiken Mittelmeerraum die Rede sein.

Entgegen anderer Behauptungen betont Gerda Lerner, dass die Prostitution  nicht  aus sakralen Sexualriten ableitbar sei, wie sie uns aus den frühen sumerischen Stadtstaaten bekannt sind. Diesen liegt eine völlig andere Motivation zugrunde, nämlich die Vermittlung göttlicher Lebenskraft durch hoch angesehene Priesterinnen, die als Stellvertreterinnen der Göttin die Heilige Hochzeit mit dem jungen König vollzogen. Anlässlich der grossen Tempelfeste gab es im Umkreis des Tempels den ekstatischen Mitvollzug der Liebesvereinigung unter freien Paaren, mit der die Fruchtbarkeit der Felder und der Herden garantiert werden sollte.

Erst viele Jahrhunderte später berichtete Herodot( 490-425  v.Chr.)  von einer Sitte in Babylonien, wonach sich jede Frau einmal in ihrem Leben im Hain des Tempels der Göttin Mylitta (die Entsprechung der griechischen Aphrodite) einem Fremden hingeben müsse. Dies als eine Art Initiation, um sich der Göttin zu weihen. Herodots Bemerkung, dass die Münze, die der Mann der Frau zuwirft, „heiliges Geld“ sei, spricht eher dafür, dass diese Gabe für den Tempel bestimmt war und nicht als persönliche Entlohnung für den Liebesdienst. Denn fortan, so heisst es, würde sich die Frau nie wieder prostituieren.  Immerhin bestätigt dies, dass die Prostitution als bezahlte Dienstleistung nicht aus einer sakralen Praxis hervorgegangen ist.

Im Übrigen klingt der ganze Bericht wenig glaubwürdig und von Vorurteilen des griechischen Beobachters durchsetzt, wenn er  behauptet, die schönen Frauen seien  sogleich für den Akt erwählt worden, während die Hässlichen die längste Zeit hätten warten müssen.
Im Unterschied dazu wissen wir von den Sitten im klassischen Griechenland Genaueres. In Athen gehörten die Dirnen der öffentlichen Bordelle zur untersten sozialen Schicht. Viele von ihnen waren ehemalige Haussklavinnen, die von ihren Herren an die Bordelle verkauft worden waren.
Im Ansehen weit über diesen Zwangsprostituierten standen die so genannten Hetären, was sie als „Gefährtinnen“ der Bürger Athens bezeichnet. Sie waren professionell ausgebildete Flötenspielerinnen und Tänzerinnen, die sich gewerbsmässig, also gegen Bezahlung, zur Unterhaltung bei Festgelagen (Symposien) anboten. Manche von ihnen eigneten sich im Verkehr mit Künstlern und Gelehrten eine für Frauen ungewöhnliche Bildung an  und waren als Gesellschafterinnen hoch geschätzt. Wenn sie ihren Verehrern auch ihre erotisch-sexuelle Gunst gewährten, so war dies ihre freie Entscheidung, wofür man sie mit  wertvollen Geschenken oder auch Geld bedachte.
Meist handelte es sich dabei um Zugezogene aus den kleinasiatischen griechischen Kolonien, darunter berühmte Namen wie Phryne, die dem Bildhauer Praxiteles für das Bildnis der Aphrodite Modell stand oder Aspasia, die langjährige Lebensgefährtin des Perikles.
Es ist allerdings anzunehmen, dass es zwischen den gewöhnlichen Dirnen und den hochgestellten Hetären auch Zwischenformen gewerbsmässiger Prostitution gab, zumal es freigekauften Sklavinnen möglich war, sich musisch weiterzubilden. Sie passten  wohl die Preise für ihre jeweiligen Dienstleistungen an die Nachfrage an.
Bekanntlich standen den griechische Männern offiziell auch homoerotische Beziehungen offen, wobei zur Verbindung erwachsener Männer mit Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren neben dem sexuellen Aspekt die Weitergabe von Wissen und Karrieremöglichkeiten gehörte. Waren die Kontakte auch nicht käuflich, so entstanden doch Abhängigkeiten und wohl auch berechnendes Entgegenkommen, was aus heutiger Warte sexuellen Missbrauch darstellt.

Im römischen Reich und dessen Provinzen waren Sklaverei und Prostitution selbstverständliche Ein-richtungen.  Über das frühe Mittelalter wissen wir wenig, aber auch im Karolingerreich existierte Sklaverei und vermutlich auch Prostitution (F.Heer 1983). Vom Hoch- und Spät mittelalter wissen wir mit Sicherheit, dass es in allen europäischen Städten öffentliche Bordelle gab, die von den Stadtoberen unterstützt und auch von der Kirche geduldet waren. Mit der Leitung waren bezahlte Puffmütter betraut, die arme Mädchen aus den Unterschichten anwarben. Auch  der Besuch von Badstuben und anderen privaten Absteigen galt für Bürger aller Schichten als üblich und nicht rufschädigend. Im Gegensatz dazu wurden die Prostituierten nur als Sexobjekte begehrt und als Personen gar nicht wahrgenommen oder für nichtswürdig gehalten.
Ihren Höhepunkt fand die Frauenverachtung bei den nächtlichen Streifzügen von jungen Gesellen, die in die Häuser ungeschützter Frauen eindrangen und sie vergewaltigten, ohne dass die Behörden dagegen einschritten (Ariès/Béjin/Foucault 1984).
Besonders in grossen Handelsstädten wie London oder Venedig gab es noch bis ins 19. Jahrhundert Zwangsprostitution  meist sehr junger Mädchen.
Eine Sonderstellung unter den Hochkulturen nimmt Indien ein. Dort kam es durch den Einfall der Arier im 2. vorchristlichen Jahrtausend zu rigiden Herrschaftsformen, nachdem die Eroberer zahlenmässig den Indigenen weit unterlegen waren. Dazu diente das Kastensystem mit den vier „Varnas“,  was  dem Sinn nach Klasse, Stand und  auch Hautfarbe bedeutet. Blieben die beiden oberen Kasten den hellhäutigen Siegern als Priester, Krieger und Staatsbeamte vorbehalten, so gehörten zur dritten Kaste  Kaufleute und landeignende Bauern, zur vierten die Handwerker und Taglöhner. Noch darunter standen die so genannten Unberührbaren, denen die „unreinen“ Berufe zufielen. Dabei lief der absteigenden Linie von Macht und Ansehen der zunehmende Grad an dunkler Hautfarbe parallel.
Bis heute bestimmt das offiziell abgeschaffte Kastenwesen weitgehend die Heiratsgepflogenheiten und den erleichterten oder erschwerten Zugang zu angesehenen Berufen Bis heute bestimmt das offiziell abgeschaffte Kastenwesen weitgehend die Heiratsgepflogenheiten und den erleichterten oder erschwerten Zugang zu angesehenen Berufen.
In besonderem Mass beeinflusst es das Geschlechterverhältnis, wobei die patriarchale Gesellschaftsstruktur den Frauen aller Schichten untergeordnete Rollen zuweist, und den Frauen der Unterschichten darüber hinaus das Stigma des sexuellen Freiwilds. Wie die jüngsten Skandale in Indien zeigen, scheint unter  Männern die Vorstellung von einem ungeschriebenen Recht auf Vergewaltigung  „niederer“ Frauen immer noch aktuell zu sein.
Bordelle sind in Indien zwar offiziell verboten, doch sind sie in allen Grossstädten  zu finden. Dort werden Zwangsprostituierte vor allem aus Nepal angeboten, die man zu diesem Zweck nach Indien verkauft.
Im Gegensatz zu solchen  Unmenschlichkeiten in zivilisatorisch hoch entwickelten Ländern gab es in indigenen Kulturen vor ihrer Eroberung bzw. Kolonialisierung durch fremde Herrscher weder Prostitution noch die geduldete Praxis von Vergewaltigung. Dass letztere kaum je anzutreffen war, berichteten christliche Missionare im 17. Jahrhundert voller Verwunderung aus ihrer Tätigkeit bei nordamerikanischen und südamerikanischen Indianerstämmen (R. Briffault 1927).
Am eindeutigsten war und ist das respektvolle Verhalten gegenüber den Frauen in Ethnien, bei denen  die Generationenfolge in der mütterlichen Linie tradiert wird. Noch heute gilt dies für die Gemeinschaften des alten Ladakh oder für die Mosuo am Lugusee in Südwestchina. Hier gehen Frauen im Rahmen der „Besuchsehe“ nach eigener Wahl freie Liebesbeziehungen ein, die problemlos auch wieder gelöst werden können. Heutige chinesische Touristen missdeuten diese Freiheit allerdings gründlich, wenn sie freie Liebe mit Prostitution verwechseln und in ihren Tourismuszentren Bordelle einzurichten versuchen.
Auch bei ursprünglich lebenden indigenen Völkern Afrikas bestehen egalitäre Geschlechterverhältnisse und geht die sexuelle Initiative stark von den Frauen aus (I.Lenz/U.Luig 1990). Bei allen Sammlerinnen und Jägern – wie die korrekte Bezeichnung von Wildbeutern heisst -, beruht die  hohe soziale Stellung der Frauen  neben ihrer  Bedeutung als Mütter auf ihrer Rolle für die Ernährung der Gruppe: Ihr Sammelergebnis ist rein  quantitativ als Lebensgrundlage weit wichtiger als die Jagdbeute der Männer.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts überschätzten die Ethnologen die Jagd und den Jäger in seiner angeblich dominanten Stellung, was im Falle der südafrikanischen „Buschleute“ dazu führte, überhaupt nur von „Buschmännern“ zu sprechen. Auch zogen europäische Beobachter aus der Tatsache, dass die seltenere Fleischnahrung bei allen Mitgliedern der Gruppe sehr beliebt ist,  den falschen Schluss, Männer hätten  damit Frauen bestechen und  sexuell gefügig machen können.  Das liess sich, - durch die patriarchale Brille gesehen - bis in die Frühzeit der Menschheit zurück projizieren: Fleisch gegen Sex gewissermassen als Urmodell der Prostitution.
Im Blick auf die jüngere Forschung an den heute so genannten San bzw. Khoi-San in Südafrika erweist sich dies als barer Unsinn. Nachdem die „Buschleute“ von den weissen Siedlern der Kolonialzeit für unkultivierte Barbaren gehalten, verfolgt und nahezu ausgerottet wurden, leben heute wieder ca. 37 000 San in Namibia, Botswana und in der Kalahari.  In Gemeinschaften von 30-50 Individuen führen sie ein friedliches, an äusserst kluge Regeln gebundenes Leben, geleitet von einem Geschwisterpaar  bzw. einem der beiden als Dorfältestem oder Dorfältester. Die Ethnologin Megan Biesele spricht vom „geschlechter-egalitärsten“  System der Welt, bei dem die Frauen mit ihrer Kenntnis von 200 Pflanzen und dem Fangen von Kleintieren 70-80 % der Ernährung erbringen. Die Männer sind hervorragende Spurensucher von 60 Tierarten und erfolgreiche Jäger mit vergifteten Pfeilen. Auf die gleichmässige Verteilung der Jagdbeute auf alle Dorfbewohner und -bewohnerinnen  wird streng geachtet;  Geiz und persönliche Bevorteilung sind ebenso verpönt  wie aggressive Rivalitäten zwischen den Jägern, indem die Erfolgreichsten  anderen zeitweise den Vortritt lassen.
Neben arrangierten Ehen mit matrilokalem Wohnsitz sind frei gewählte Liebesbeziehungen die häufigste Form des Zusammenlebens.  Dabei geht die sexuelle Initiative meist von den selbstbewussten Frauen aus, die ihre Beziehung nach einigen Jahren auch wieder auflösen können, um sich einem anderen Partner zuzuwenden. Das löst zuweilen gegenseitige Handgreiflichkeiten zwischen den Paaren  oder heftige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Männern aus. 
Hingegen werden aggressive Übergriffe zwischen den weit auseinander liegenden Dorfgemeinschaften durch faire Jagdregeln und gegenseitige Hilfe in Dürrezeiten vermieden. Seit 100 Jahren wurde kein einziger Mord wegen territorialen Konflikten bekannt.
Die Kenntnisnahme dieser beeindruckend friedlichen Lebensweise ist insofern kulturgeschichtlich bedeutsam, als im Jahr 2012 ein internationales Forscherteam genetische Studien veröffentlichte, wonach sich die Stammeslinie der Khoi-San bis zur jüngeren Altsteinzeit vor 100‘000 Jahren zurückverfolgen lässt. Demnach sind sie das älteste Volk des Homo sapiens,  das bei konstantgenetischer bleibender genetischer Beschaffenheit  bis heute existiert.
Bisher wusste man bereits, dass die „Buschleute“ vor ca.10‘000 Jahren in ganz Afrika verbreitet waren und an vielen Orten  ihre grossartigen Felszeichnungen hinterliessen. Dabei ist die Beobachtung von Archäologen sicher nicht zufällig,  dass die Tiermotive dieser Bilder und die Anklänge  an schamanistische Praktiken stark an die Höhlenmalereien von vor 40‘000 Jahren in Südfrankreich und Nordspanien erinnern.

Merkwürdig bleibt nur, dass unsere hochspezialisierte Wissenschaft oft entscheidende Zusammenhänge nicht sieht und die sich aufdrängende Frage nicht stellt: Könnte es sein, dass der Homo sapiens am Beginn seiner Kulturentwicklung in ähnlichen Verhältnissen friedlicher und egalitärer Art gelebt hat wie seine genetischen Erben über Jahrtausende hinweg bis in die Gegenwart? Immerhin wäre dieser naheliegende Gedanke dazu geeignet, an der hartnäckigen Vorstellung von den menschlichen  Urhorden und ihren Oberhäuptlingen zu rütteln.

Literatur:
- Ariès/Béjin/Foucault u.a. : Die masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland, Frankfurt/Main 1984
- Biesele, Megan/R. Gordon/R. Lee: The Past and Future of !Kung Ethnography, Hamburg 1986
- Briffault, Robert: The Mothers, A Study of the Origines of Sentiments and Institutions, New York 1927
- Heer, Friedrich: Mittelalter vom Jahr 1000 bis 1350, Teil 1, Kindlers Kulturgeschichte, München 1983
- Lenz, Ilse/Luig, Ute: Frauenmacht ohne Herrschaft, Geschlechterverhältnisse in nicht patriarchalen Gesellschaften, Berlin 1990
- Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt/New York 1991
- Meier-Seethaler, Carola: ursprünge und Befreiungen, Eine dissidente Kulturtheorie, überarbeitete Neuauflage 2011, opus magnum, Stuttgart
- Spiegel online Wissenschaft, 21.09.2012: Khoi San - Genforscher studieren ältestes Volk der Welt
- Sternfeld, Eva: Neue chinesische Untersuchungen über nicht patriarchale Gemeinschaften der Mosuo Provinz Yunan, Berlin 1991

 

Zur Prostitutions-Debatte

[30.10.2014]

Wie viele Intellektuelle, Künstlerinnen und Künstler gehöre ich zu den Erstunterzeichner/innen von Alice Schwarzers „ Appell gegen Prostitution“ vom Oktober 2013.
Seither findet eine kontroverse Diskussion auch unter Feministinnen statt, zum Teil mit Argumenten, die für eine breitere Öffentlichkeit mehr Verwirrung als Aufklärung stiften.
Dazu einige grundsätzliche Kommentare.

I. Prostitution, das älteste Gewerbe der Welt – Fehlanzeige!

Die übliche Rede von Prostitution als dem ältesten Gewerbe der Welt ist schlicht falsch, weil historisch unhaltbar. Das Feilbieten des weiblichen Körpers zur sexuellen Dienstleistung lässt sich erstmals aus der jüngeren Periode der mesopotamischen Hochkulturen herleiten. Dazu hat uns die bekannte Historikerin Gerda Lerner durch umfassende Quellenstudien ins Bild gesetzt: Im Zuge erster Eroberungskriege im Laufe des 3. vorchristlichen Jahrtausends begann die Errichtung einer patriarchalen, hierarchisch strukturierten Gesellschaft, bei der die eroberten Völker unterjocht und die Kriegsgefangenen versklavt wurden. Darunter waren besonders viele Frauen, welche die Sieger nicht nur zu niedrigen Arbeiten, sondern auch zur sexuellen Verfügbarkeit zwangen.
Von dieser Zwangsprostitution bis zur Prostitution als freies Gewerbe war es noch ein langer Weg, und dieser ist strikt zu unterscheiden von der viel älteren Tradition sakraler Sexualriten in den mesopotamischen Stadtstaaten. Dort wurden Grosse Göttinnen als Schirmherrinnen von Mensch und Natur verehrt, und die Königsmacht durch die „Heilige Hochzeit“ begründet. Die Inthronisation des jungen Königs erfolgte durch den sakralen Sexualakt mit der Hohenpriesterin als Stellvertreterin der Göttin, und anlässlich dieses Festes gab es den ekstatischen Mitvollzug der sexuellen Vereinigung unter den Menschen im Umkreis des Tempels. Mit Hilfe der vitalen göttlichen Kraft sollte die Fruchtbarkeit des gesamten Lebens auch auf den Feldern und bei den Herden garantiert werden.
Spätere Geschichtsschreiber missdeuteten diese „Sexualfrömmigkeit“ (Heinz Hunger, Die Heilige Hochzeit 1984) als Tempelhurerei, obwohl in Sumer und Babylonien Töchter aus der Oberschicht als hoch angesehene Priesterinnen sexuelle Riten in den Tempeln vollzogen.
Entgegen anderer Behauptungen betont Gerda Lerner, dass die gewerbliche Prostitution nicht aus der sakralen Prostitution ableitbar sei. Sie entstand davon unabhängig erst im Laufe des 2. vorchristlichen Jahrtausends, und zwar aus der Not verarmter Schichten. Nach der Errichtung einer rigiden Klassenherrschaft setzte sich der Personenkreis käuflicher Frauen zum einen aus ehemaligen Haussklavinnen und zum andern aus den Töchtern verarmter Unterschichten zusammen. Gewinnsüchtige Herren verschacherten ihre Sklavinnen an dazu eingerichtete Bordelle, während Töchter verarmter Bauern ihre sexuellen Dienste in der Stadt bei Tempelfesten und anderen gesellschaftlichen Treffpunkten anboten oder von den eigenen Vätern aus Existenznot an entsprechende Einrichtungen verkauft wurden. Von freiem Gewerbe konnte also noch lange nicht die Rede sein.
Das mittelassyrische Gesetz um 1250 v.Chr. gewährt Einblick in die damalige patriarchale Doppelmoral, wie sie sich in der Verschleierungsordnung spiegelt. Darin wird festgelegt, dass die Gattinnen, Witwen und Töchter eines Bürgers beim Ausgang auf die Strasse ihren Kopf verhüllen müssen, dies aber Nichtverheirateten der Unterschicht und Sklavenmädchen strikt verboten ist. Alle Frauen, die nicht unter dem Schutz und der sexuellen Kontrolle eines Mannes standen, wurden als „öffentliche Frauen“ stigmatisiert und ihnen gegen Androhung strenger Prügelstrafen das Tragen des Schleiers verboten. Mit diesem Gesetz wird die äusserlich ablesbare Grenze zwischen „anständigen“ und „unsittlichen“ Frauen gezogen, zwischen tugendhaften Angehörigen und willfährigen bzw. willkürlich benutzbaren Sexobjekten. Seitdem gehören Einrichtungen für Prostitution zu den Grundpfeilern der patriarchalen Gesellschaftsordnung.
Bis heute hat sich nicht nur im inzwischen islamisch geprägten Nahen Osten die Ambivalenz gegenüber der - im Grunde angsteinflössenden - erotischen Ausstrahlung der Frau erhalten. Auch europäische Männer befinden sich im Konflikt zwischen sexueller Abhängigkeit und dem Bedürfnis nach distanzierter Überlegenheit, woraus die käufliche „Liebe“ einen Ausweg zu bieten scheint. Zum einen ist Bezahlung von sexuellen Diensten ein Mittel, sich die Macht über das andere Geschlecht zu sichern, zum andern bestärkt sie das männliche Potenzbewusstsein, weil es zur Praxis der Prostituierten gehört, ihren Kunden den eigenen Lustgewinn vorzugaukeln. So kommt für den Freier zum Ausleben sexueller Phantasien - oft genug geprägt von harter Pornographie - die schmeichelhafte Illusion hinzu, ein guter Liebhaber zu sein. Kurz: Sexuelle Dienstleitung als Arrangement von Betrug und Selbstbetrug gegen Bezahlung.

II. Freiwillige Sexarbeit?

Bekanntlich ist die jüngste Anti-Prostitutions-Kampagne die Antwort auf den globalen Frauenhandel und die damit entstehende Zwangsprostitution von Frauen aus den ärmsten Ländern. Dabei fokussiert Alice Schwarzer den Zusammenhang zwischen zunehmender Aufblähung des Sexgewerbes und der liberalen Gesetzgebung in Deutschland seit 2001, welche Bordellbetreibern und Zuhältern die schamlose Bereicherung erleichtert und die Aufdeckung krimineller Machenschaften erschwert.
Eine Gruppe links gerichteter Feministinnen bezweifelt diesen Zusammenhang wie auch die von Schwarzer beigebrachten Zahlen. Nach Lage der Dinge kann es sich nur um Schätzungen handeln, doch ist die Dunkelziffer hoch und die Annahme berechtigt, dass über zwei Drittel der in Deutschland arbeitenden Prostituierten Ausländerinnen sind, die unter entwürdigendsten Bedingungen ausgebeutet werden.
Die Befürworterinnen einer selbstbestimmten Sexarbeit, die von Zwangsprostitution grundsätzlich zu unterschieden sei, unterschätzen nicht nur die dazwischen liegende Grauzone, sondern gehen auch mit dem Begriff der Freiwilligkeit recht summarisch um. Ist der Entschluss, als Prostituierte zu arbeiten, wirklich frei, wenn purer Existenzkampf dazu nötigt und/oder das Fehlen jeder beruflichen Perspektive bei familiärer Abhängigkeit?
Auch in der Schweiz gibt es den sprunghaften Anstieg von ausländischen Sexarbeiterinnen. Allein in der Stadt Bern hat sich deren Zahl aus südeuropäischen Ländern während der letzten vier Jahre mindestens verzehnfacht („Der Bund“, 5.Juli 2014, S.19). Dies als Folge von Finanzkrise und hoher Arbeitslosigkeit, aber auch infolge der sehr leicht zu erwerbenden Bewilligungen. Für die Ausübung des Sexgewerbes während dreier Monate genügt ein Genehmigungsverfahren via Internet.
Zwar sind sich alle Parteien darin einig, dass Zwangsprostitution strafrechtlich zu verfolgen und alle Sexarbeiterinnen vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen sind. Doch scheitert dies bisher daran, dass die meisten Betroffenen aus Angst vor Rache oder aus Scham keine Anzeige wagen.
Feministinnen, die sich pro Prostitution engagieren, sehen die Hauptursache in der Furcht vor moralischer und gesellschaftlicher Diskriminierung. Deshalb ihr Argument: Nur wenn Sexarbeit gesellschaftlich voll anerkannt sei, könnten Prostituierte ihre Rechte auch öffentlich einfordern. Darüber hinaus wehren sie sich dagegen, Prostituierte einseitig als Opfer zu sehen. Vielmehr könne ihre Berufswahl auch als emanzipatorischer Schritt verstanden werden, wenn sie dadurch ökonomische Unabhängigkeit gewinnen. Dabei gehe es um das Recht, über den eigenen Körper frei zu verfügen (Siehe Diskussionspapier zur Sexarbeit, August 2014).

III. Sexarbeit als „Care-Arbeit“?

In ihrem Papier vom August 2014 legen Schweizer Fachgruppen für Sexarbeit (Xenia, Pro Co Re) ihre Visionen vom zukünftigen Stellenwert der Prostitution dar. Ihnen geht es um das „Empowerment“ der Sexarbeiterinnen und um die gesellschaftliche Wertschätzung der Prostitution, weil diese zum Funktionieren unserer Gesellschaft ebenso beitrage wie die Hausarbeit und andere Tätigkeitsfelder der Care-Ökonomie (vgl. "Neue Wege" Nr. 5 und 11 / 2014).
Sollen also Dienstleistungen im Sexgewerbe gleich hoch geschätzt werden wie Säuglingspflege, häusliche Betreuungsarbeit, Krankenpflege und Fürsorge für Alte und Behinderte? Und welches Verständnis von Sexualität setzt dies voraus? Sexualität als problematisches oder gar hilfloses Bedürfnis, gewissermassen als Notdurft, der in „Verrichtungsboxen“ Abhilfe zu verschaffen ist?
Sex ohne eine Spur von Verliebtheit, ohne gegenseitiges Begehren, als bezahlbare Dienstleistung, das ist für mich keine Frage der Moral, sondern einfach nur himmeltraurig. Bedeutet es doch die Entwertung von Sexualität als Lebenselixier, das nur bei sinnlicher Ergriffenheit und durch gegenseitig gespendete Lust zu haben ist!
Eigentlich irritierend an der ganzen Debatte ist ihr historischer Zeitpunkt. Wie ist es möglich, dass in unserer europäischen Gegenwart, in der es so viel sexuelle Freiheit gibt wie nie zuvor, gekaufte Sexualität einen derart grossen Raum einnimmt? Heute können Jugendliche ab 16 Jahren Liebesverhältnisse ohne Sorge um unerwünschte Schwangerschaften eingehen, können Partnerschaften wechseln, und selbst Seitensprünge in der Ehe sind nicht mehr tabuisiert. Ist die Entzauberung und Kommerzialisierung unseres Daseins schon so weit fortgeschritten, dass sinnliche Wahrnehmung und spontane erotische Anziehung nicht mehr selbstverständlich sind?
Vermutlich spielt auch die Veränderung der Geschlechterrollen seit der Frauenemanzipation mit. Nachdem sich als Illusion erwies, was Männern seit Jahrtausenden eingeredet wurde: nämlich das stärkere, intelligentere und kreativere Geschlecht zu sein, könnten manche von ihnen sexuelle Partnerschaft auf Augenhöhe (unbewusst) als Überforderung empfinden. Daher wäre das Empowerment für männliche Sinnlichkeit angesagt: für mehr unmittelbares Gespür beim Senden und Empfangen von erotischen Wellen, für Lebensbejahung und Lebensfreude jenseits von Leistung, Erfolg und Profit.

IV. Prostitution eine Arbeit wie jede andere?

Die Behauptung, Prostitution sei eine Arbeit wie jede andere, dient seit Jahren dem Versuch, gesellschaftliche Vorurteile abzubauen. Aber selbst wenn es tatsächlich Frauen gibt, die ohne physische Not und ohne psychische Narben aus der Kindheit den Beruf der Prostituierten wählen, weil sie Freude am sexuellen Rollenspiel finden oder weil es ihnen ganz rational um das zu erzielende Einkommen geht, so ist die Verallgemeinerung dieser Aussage unhaltbar.
Wäre Prostitution wirklich eine Arbeit wie jede andere, so wäre sie für Langzeitarbeitslose zumutbar, genauso, wie es für Harz IV-BezügerInnen als zumutbar gilt, gemeinnützige Reinigungsarbeiten zu übernehmen. Stellen wir uns aber vor, dass offizielle Arbeitsämter es Sekretärinnen oder Verkäuferinnen, die wegen Betriebsschliessung ihre Arbeit verloren, nahelegen würden, sich als Prostituierte zu bewerben, weil im Sexgewerbe Stellen offen sind, so wird die Grenzüberschreitung schlagartig klar: Leibliche Integrität gehört zu den unveräusserlichen Menschenrechten.
Die eigentlichen gesellschaftlichen Probleme liegen in der strukturellen Gewalt jeder patriarchalen Herrschaftsordnung, wobei soziale und sexistische Diskriminierung gleich schwer wiegen.
Auch die VertreterInnen des schwedischen Modells wissen, dass Verbote allein das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern und zwischen Herrschenden und Beherrschten nicht verändern. Es geht um den Aufschrei nach Bewusstseinsveränderung, nicht zuletzt um den Protest gegen die Kommerzialisierung aller Facetten unseres Lebens. Neben der viel zitierten Entfremdung von der Arbeit droht heute auch die Entfremdung von der Lebendigkeit.

 

Verleumdungsmythen

[28.10.2012]

Verleumdungsmythen zur Diskriminierung der Frau

Anlass zu dieser Kolumne war ein Bericht im Feuilleton der Süddeutsche Zeitung vom 27. September 2012. Unter der Überschrift „Blut und andere Ressourcen“ wird darin über den Deutschen Historikertag in Mainz berichtet. Dieser wurde von Barockmusik des Komponisten Carl Heinrich Graun zu Ehren des 300. Geburtstags Friedrich des Grossen umrahmt. Den Auftakt gab die Arie der Kleopatra „Ich will Gemetzel, ich will Blut“, die von den Historikern anscheinend kommentarlos hingenommen wurde.
Diese Arie steht in der Tradition der Verleumdungen, welche die schöne Königin seit der Antike umgaben. Wie einer ihrer fairsten Biographen, Manfred Clauss (München 2000) heraus stellt, war Kleopatra (69-30 v. Chr.) bereits für die zeitgenössischen Historiker ein willkommenes Projektionsfeld, um von der brutalen Vorgehensweise der römischen Herrscher während ihres Bürgerkrieges abzulenken.
In Wahrheit war Kleopatra völlig abhängig von der Römischen Streitmacht und Königin von Ägypten nur von Roms Gnaden. Um in dieser Situation die relative Unabhängigkeit ihres Landes zu bewahren, setzte sie die ganze Palette ihrer hohen Gaben ein: Ihre ausserordentliche Bildung und die Beherrschung mehrerer Sprachen, ihre Redegewandtheit und ihren von allen Zeitgenossen gerühmten Charme, sowie nicht zuletzt ihre erotische Ausstrahlung, mit der sie die leidenschaftliche Zuneigung Cäsars und später des Antonius gewann. Wenn über ihre Lasterhaftigkeit, ihre Verschwendungssucht und ihre Mordlust berichtet wird, so sagt dies mehr über die Berichterstatter als über sie selbst aus. Es spiegelt, in den Worten von Manfred Clauss, die Alpträume der Männer aller Zeiten: ihre Angst vor starken Frauen und deren erotischer Faszination, die ihre Phantasie zu männermordenden Bestien macht.
Die erste in dieser Reihe ist die Sünderin Eva, die mit ihrem Ungehorsam gegen Gott die Menschheit ins Verderben gestürzt haben soll. In Wahrheit trägt sie den Namen Eva als Mutter alles Lebendigen, und ihr waren der Grantapfelbaum als Symbol der Fruchtbarkeit und die Schlange als Zeichen der Lebenskraft und der Wiedergeburt zugeeignet.
Ihre patriarchale Verleumdung teilt sie mit der griechischen Pandora, die, wie ihr Name „Die Allgebende“ sagt, eine lebensspendende Göttin war, bevor Hesiod sie zur männermordenden Attrappe machte und aus ihrer Büchse - dem Kästchen, welches das Geheimnis des Lebens birgt – alle Übel der Welt entweichen liess.
Aus der griechischen Mythologie und auf den griechischen Vasen ist die Amazonensage eines der bekanntesten Motive. Diese starken und schönen Frauen sollen angeblich Knaben schon bei ihrer Geburt umgebracht und sich eine Brust abgeschnitten haben, um in ihrem Kampf gegen die Männer die Bogenwaffe besser handhaben zu können. Doch diese Amazonen hat es nie gegeben und bis heute wurde von ihnen nicht die geringste historische Spur entdeckt. Ellen Reeder entlarvte in ihrem Buch „Pandora“ (Basel 1996) die wahren Motive: Die Furcht vor der „ungezähmten“ Frau und die Rechtfertigung dafür, sie zu unterdrücken und zu beherrschen.
Christa Wolf ordnet in diese Reihe auch den Mythos von Medea und ihre blutige Rache an Jason ein, die in der Tötung ihrer Kinder gipfelt. Doch geht die älteste schriftliche Quelle, die uns überliefert ist, das Drama des Euripides, bereits von den angeblichen mörderischen Taten Medeas aus. Wolf stützt sich auf die nicht unberechtigte Annahme, die Griechen hätten die Geschichte zu ihren Gunsten entstellt, um ihre eigenen Grausamkeiten als Kolonisatoren auf die Fremde aus Kolchos zu projizieren.
In der jüdischen Tradition übernimmt Salome die Rolle der männermordenden Frau, obwohl ihre Figur historisch blass bleibt und sie kaum mit der Hinrichtung Johannes des Täufers in Verbindung gebracht werden kann. Das hinderte Dichter, bildende Künstler und Musiker nicht daran, ihre Schauergeschichte über Jahrhunderte hinweg künstlerisch zu gestalten.
Die Liste solcher Projektionsfiguren liesse sich bis in die Neuzeit verlängern. So lenkten namhafte Journalisten im Vorfeld der französischen Revolution die berechtigte Volkswut gegen die herrschende Monarchie auf die Königin Marie Antoinette. Die junge, aus dem österreichischen Kaiserhaus stammende Marie Antoinette war in ihrer Naivität und in Ermangelung nützlicher Aufgaben ganz den adeligen Vergnügungen und dem üblichen Luxus zu getan. Deshalb war es ein Leichtes, ihr in der so genannten „Halsbandaffaire“ Verschwendungssucht vorzuwerfen, obwohl sie in diesen Handel nicht aktiv verwickelt war. Zudem kursierten pornographische Kupferstiche, die sie als sexuell unersättliche Frau verleumdeten. Ihre Verbindungen zum Hof in Wien taten das Übrige, um den Fremdenhass der Franzosen zu schüren.
Merkwürdig bleibt, wie lange sich solche Hirngespinste halten können. Vermutlich verdanken sie dies einem untergründigen Frauenhass, dessen Tiefen noch immer nicht durchschaut sind.

Essay Gottesglaube

[01.04.2012]

Angeregt durch den „BUND-Essay-Wettbewerb“ verfasste ich einen Beitrag zum Thema.

Ich glaube nicht an Gott, doch ich vermisse ihn

Die Gretchenfrage, wie wir sie aus Goethes Faust kennen, wurde nicht erst in der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts gestellt. Sie ist viel älter und markiert seit der Antike die Grenze zwischen Wissen und Glauben. Verblassten die griechischen Götter unter dem naturwissenschaftlichen Blick eines Demokrit(460-371 v.Chr.) und Epikur (342-271 v.Chr.), so erklärten die Sophisten als erste die Gottesbilder zu menschlichen Wunschbildern.
Damit war bereits das Thema der „Gottesbeweise“ beziehungsweise deren Vergeblichkeit aufgeworfen, ein Diskurs, der Theologen und Philosophen im gesamten Mittelalter und in der Neuzeit bis Kant in Atem hielt. Aber auch nachdem mit der Kritik der reinen Vernunft die metaphysische Spekulation für immer ad acta gelegt schien, und Darwins Evolutionslehre der Vorstellung einer planvollen Schöpfung die Basis entzogen hatte, stand die Gretchenfrage noch immer im Raum.
Diese Hartnäckigkeit wird dann plausibel, wenn wir bedenken, dass hinter der Frage nach Gott noch ein zweites, dringendes Erkenntnisbedürfnis steht. Neben der Frage nach der Entstehung des Universums ist es die Frage nach dem Sinn des Lebens als Ganzem und dem der Menschen im Besonderen. Hatte für das erste Problem der „kosmologische Gottesbeweis“ eine scheinbare Lösung gefunden, aber mit den Errungenschaften von Astrophysik und Evolutionsbiologie an Glaubwürdigkeit verloren, so konnte er zur Not mit dem Hinweis auf eine erste Ursache formal aufrecht erhalten werden. (Dies wurde mit dem „Deismus“ versucht, indem man den Ablauf des Weltgeschehens seiner Eigengesetzlichkeit überliess und Gott nur noch als dessen Initiator auffasste).
Hingegen blieb der praktische oder moralische Gottesbeweis deshalb so unabweisbar auf der Agenda der religionsphilosophischen Diskussion, weil mit ihm die Sinnfrage auf Gedeih und Verderben verknüpft schien. Selbst Kant (1724-1804), der die Motivation zum moralischen Handeln als unabhängig vom religiösen Glauben erkannte, sah sich dazu gedrängt, Gott und Unsterblichkeit als rechtmässige Annahme einzuräumen, wenn auch nur als ein Postulat der praktischen Vernunft.
Dabei war schon vor ihm David Hume (1711-1776), von dem Kant sagte, er habe ihn aus dem „metaphysischen Schlummer“ geweckt, dem moralischen Gottesbeweis mit prinzipieller Skepis begegnet. In seinem erst posthum veröffentlichen Dialog über die natürliche Religion zweifelt einer der Protagonisten am Bild von der Vollkommenheit Gottes, indem er die schon von Epikur gestellten Fragen aufgreift, ob die Gott zugeschriebene Eigenschaften von Allmächtigkeit und Güte miteinander vereinbar seien. Auf die kürzeste Formel gebracht lauten sie: Will er Übel verhüten und kann nicht? dann ist er nicht allmächtig. Kann er und will nicht? Dann ist er übelwollend. Will er und kann er es, woher dann das Übel?
Bis heute bleibt das Theodizeeproblem, das heisst die Rechtfertigung Gottes angesichts unverschuldeter Leiden, ungelöst.
Jüdische und christliche Theologen weichen ihm aus, indem sie sich auf die unergründlichen Ratschlüsse Gottes zurückziehen oder ihre Hoffnung auf einen gerechten Ausgleich im Jenseits setzen. An diesem neuralgischen Punkt scheiden sich die Verteidiger des Glaubens von den Geistern der Aufklärung noch eindeutiger als an der Frage nach dem Ursprung des Kosmos.
Es war Baruch Spinoza (1632-1677), der den radikalsten Schritt auf dem Weg der heraufdämmernden Aufklärung vollzog. Seine Gleichsetzung von Gott und Natur bedarf keines Schöpfers, noch gibt es eine Trennung zwischen Geist und Materie, und dieser „Monismus“ nimmt modernste neurobiologische Vorstellungen vorweg. Wenn spätere, romantische Denker euphorisch von „Pantheismus“ sprechen, um auszudrücken, dass Gott in allen Wesen und in allen Dingen anzutreffen sei, so entspricht dies nur auf verschwommene Weise der ursprünglichen Position Spinozas. Seinen Gott musste man weder fürchten, noch konnte man auf ihn hoffen. Als unpersönliches Wesen ist er kein Richter und kein strafender Gott, aber er ist auch im Gebet nicht erreichbar und wir können auf kein jenseitiges Leben hoffen. Spinozas „intellektuelle Liebe zu Gott“ ist nichts anderes als die Liebe zur immer vollkommeneren Erkenntnis aller Naturzusammenhänge. Deshalb war es folgerichtig, wenn Spinozas gläubige jüdische Zeitgenossen ihn als Gottesleugner empfanden und aus ihrer Gemeinschaft ausschlossen.
Im Unterschied zur späteren romantischen „Naturfrömmigkeit“, welche die grausamen Aspekte der Natur zu vergessen schien, waren sie Spinoza durchaus bewusst. Doch sah er im unbändigen Drang zum Leben in der gesamten Natur und in der bewussten Lebensbejahung des Menschen die positiven Kräfte, dem Dasein trotz aller Leiden glückliche Momente abzuringen.
Am schwierigsten gestaltete sich die Auseinandersetzung mit der Idee des Monismus und des Pantheismus für christliche Denker, denn dieses Konzept bot weder Raum für Transzendenz noch für eine göttliche Heilstat zur Überwindung von Übel und Schuld. Erst in jüngster Zeit ist bei einigen Theologen eine Art Rückzugsgefecht zu beobachten, mit dem sie den theistischen Gottesbegriff gleichsam neutralisieren, um ihn der Kritik zu entziehen. Wenn es im Titel eines theologischen Werkes unumwunden heisst „Gott ist nicht gut und nicht gerecht“(A.Benk,2008), so verschont dies Gott zum vornherein von jedem Rechtfertigungszwang. Anknüpfend an die „negative Theologie“ eines Nikolaus von Kues(1401-1464) wird hier auf jede Aussage über Gottes Eigenschaften verzichtet, doch nicht mehr aus der demütigen Haltung des Mystikers, für den jede Inhaltsangabe seiner Gotteserfahrung unzureichend ist. Vielmehr scheint eine völlig unpersönliche, unerforschliche und unerfahrbare „höhere Macht“ übrig zu bleiben, der man im Gebet die eigene Verzweiflung entgegen schreien kann, von der aber keine Tröstung zu erwarten ist. Wäre es da nicht ehrlicher, sich zum Agnostizismus zu bekennen und Ethik rein humanistisch zu begründen?
Dass ein autonomes Selbstverständnis der Ethik immer noch nicht Allgemeingut ist, hängt mit dem hartnäckigen Missverständnis zusammen, ethische Werte seien stets religiös begründet. Aber weder Buddhas Lehre, keinem Lebewesen Schaden zuzufügen, noch Epikurs Lob der freundschaftlichen Mitmenschlichkeit, und auch nicht Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben waren religiös fundiert. Selbst der Begriff der allgemeinen Menschenwürde entstammt nicht dem theologischen Vokabular, sondern der humanistischen Aufklärung. Im Gegenteil: Jahrhunderte lang schützte die theologische Vorstellung von der Gotteskindschaft nicht nur nicht vor barbarischen Kriegen, sondern drückte ihnen noch den Stempel von Religionskriegen auf.
Es war der englischen Aufklärung vorbehalten, vom „moral sense“ als dem natürlichen Wertempfinden zu sprechen, von einem moralischen Sinn, der allen Menschen eigen ist, wenn er ihnen nicht durch soziale Missstände abhanden kommt oder durch destruktive Ideen ausgetrieben wird.
Was zur heute beklagten moralischen Orientierungslosigkeit bei Menschen der westlichen Welt führt, ist nicht ihr Religionsverlust, sondern der fehlende innere Kompass, der durch das konfessionelle Verhaltensdiktat kaum gefördert wird.
Wenn wir von der praktischen Lebenserfahrung und der gelebten Moralität ausgehen, so rücken dabei die konkurrenzierenden Ansprüche von Religion und Ethik in den Hintergrund. Es zeigt sich vielmehr, dass Religion und Ethik gemeinsame psychische Wurzeln haben. Beide sind mit rein rationalen Überlegungen nicht zu fassen, nur verstehen sie unter „Glauben“ nicht dasselbe. Im Gegensatz zum Deutschen besitzt die englische Sprache zwei Wörter für „Glauben“: „Belief“ für das Für-wahr-halten bestimmter Glaubensinhalte, was wir auch Konfession nennen können, und das Wort „faith“, das mit Vertrauen zu übersetzen wäre. Bei diesem zweiten Begriff handelt es sich um das Grundvertrauen, wie es in der Primärgruppe zwischen Eltern und Kindern erworben wird und wie es in jeder gewachsenen Gemeinschaft zwischen deren Mitgliedern entsteht.
Wenn Friedrich Schleiermacher (1768-1834) das Gefühl der “schlechthinnigen Abhängigkeit“ die Quelle des Religiösen nannte, so ist auch das menschliche Gemeinschaftsgefühl von Abhängigkeiten geprägt: zunächst von der Abhängigkeit des Kindes von den Älteren, später von gegenseitiger Abhängigkeit und Verlässlichkeit, was die Grundlage für das Verantwortungsgefühl bildet. So lässt sich als Nahtstelle zwischen Religion und Ethik die Verbindlichkeit nennen, die aus dem Gefühl der Verbundenheit resultiert.
A-theistische Ethik verzichtet zwar auf eine transzendente Begründung ethischen Handelns, aber sie schöpft ihre Energie aus dem Mitgefühl, das keiner weiteren Begründung bedarf. Empathie können wir als gleichsam mystische Erfahrung begreifen, weil sie zwar subjektiv intensiv erlebbar, aber objektiv nur indirekt fassbar ist. Heute anerkennt die Wissenschaft altruistische Strebungen als Faktum, nachdem die Psychologie lange auf einer mechanistischen Triebtheorie beharrte und die Wirtschaftswissenschaft nur den egoistischen „homo oeconomicus“ gelten liess. Zudem beschränken sich Empathie und kooperatives Handeln nicht auf die menschliche Spezies, sondern sind auch bei andern Primaten und weiteren Säugetieren nachgewiesen. Menschen sind darüber hinaus zur planvollen Förderung des Allgemeinwohls fähig.
Auch gibt es, bei aller Verschiedenheit ihrer theoretischen Begründung und ihrer praktischen Verwirklichung, eine Reihe universell anerkannter humaner Werte. Das Gerede vom Kampf der Kulturen verfehlt den eigentlichen Kern des Problems. Die wirklichen Gegensätze spielen sich nicht zwischen den Weltreligionen ab, sondern innerhalb jeder von ihnen als Widerstreit zwischen Fundamentalismus und aufgeklärter Religiosität. Das heisst, christliche und islamische Fundamentalisten stehen einander näher als fundamentalistische und liberale Vertreter der gleichen Religion. Anlass zur Hoffnung auf kulturellen Frieden gibt die junge Generation in traditionell islamischen Ländern, unter ihnen eine grosse Anzahl Frauen und speziell Religionswissenschaftlerinnen, die sich kritisch mit den patriarchalen Strukturen ihres Glaubens auseinandersetzen.
Was den innerchristlichen Kulturkampf in Europa und Amerika betrifft, so ist er seit seinem Ausbruch Ende des 19. Jahrhunderts noch immer nicht beigelegt. Die katholische Amtskirche verwirft oder ignoriert bis heute die Befreiungstheologie und die feministische Theologie als die beiden kreativsten
Erneuerungsbewegungen des Christentums. Gerade sie hätten die Kluft zwischen theologisch und humanistisch fundierter Ethik schliessen können, weil sie von dem Grundsatz ausgehen, dass die Orthopraxie - das richtige Handeln – den Vorrang vor der Orthodoxie – der richtigen Lehre - habe. Die feministische Theologie verabschiedet sich nicht nur vom männlichen Gottesbild, sondern zugleich von einem abstrakt definierten Gottesbegriff, um ihn durch die Idee der liebenden Beziehung zu ersetzen. In ihrem Sinne wird Gott nicht als absolute Instanz begriffen, sondern als ein Geschehen, das sich in und zwischen Menschen ereignet, die füreinander und für Gerechtigkeit und Frieden einstehen.
Freilich setzen solche Glaubensvorstellungen eine völlig andere, undogmatische Christologie voraus. Sie gehen nicht mehr von der Göttlichkeit Christi und der Idee der einmaligen göttlichen Erlösungstat aus, sondern begreifen Jesus von Nazareth als religiösen Visionär und sein Leben und Sterben als kompromisslose Verwirklichung einer herrschaftsfreien und solidarischen Ethik, getragen von tiefer spiritueller Verbundenheit mit allen Menschen.
Erst in allerjüngster Zeit scheint diese Saat aufzugehen und als Herausforderung zumindest in der reformierten Kirche angekommen zu sein. Es gleicht einem Paradigmenwechsel, wenn der amtierende holländische Pfarrer Klaas Hendrikse sich als gläubigen Atheist bekennt, und er in die Berner Heiliggeistkirche eingeladen wird, um seine Haltung öffentlich zu vertreten. Christsein als Bekenntnis zu einem anderen Leben in dieser Welt, das wäre eine Reformation, die der Vision Ludwig Feuerbachs (1804-1872) ebenso entspräche wie den Hoffnungen politisch engagierter Menschen in aller Welt, die den Gedanken eines demokratischen Sozialismus nicht aufgeben, allerdings ohne den ideologischen Anspruch auf Perfektion.
Bleibt noch die Frage: Vermisse ich Gott? Für mich persönlich muss ich das verneinen. Wie sollte ich vermissen, worauf ich mit voller Überzeugung verzichtete? Aber ich bedaure, dass sich viele Menschen mit ihren Glaubenszweifeln allein gelassen fühlen und damit in eine innere Leere fallen, die sie als isolierte Menschen nicht füllen können. Eine Folge davon ist der Zulauf zu mehr oder weniger seriösen Esoterikkreisen oder, weit bedenklicher, zu evangelikalen Gruppen mit ihrer Affinität zum religiösen Fundamentalismus und zur rechtspopulistischen Politik.
Unabhängig davon gibt es aber auch für mich Situationen, in denen es mir schmerzlich bewusst wird, keinen umfassenden Trost spenden zu können. Was soll ich einem dreijährigen Kind sagen, dessen geliebte Mutter stirbt? Was einem Kind, das sein ihm am nächsten stehendes Geschwister durch einen Unfall verliert? Wer könnte es da übers Herz bringen, diesen Kindern den Himmel auszureden, wenn sie in einem religiösen Milieu aufgewachsen sind?
Auch Erwachsenen gegenüber geht es mir nicht darum, gegen ihren persönlichen Glauben zu argumentieren, weil ich jeden missionarischen Eifer für unangebracht halte. Doch wird mir die Gretchenfrage auf direkte Art gestellt, so ist meine Antwort diese: Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an die moralische Kraft in uns Menschen, die Leiden zwar nicht abschaffen, aber doch wesentlich lindern kann. Selbst wenn der Himmel leer ist, sollte niemand der völligen Verlassenheit preisgegeben sein, sondern eingebunden in einen Kreis von Mitfühlenden, sei dieser auch noch so klein.

Carola Meier-Seethaler, 2011/2012

Literatur:
- Benk, Andreas: Gott ist nicht gut und nicht gerecht. Zum Gottesbild der
Gegenwart. Düsseldorf 2008
- Damasio, Antonio R.: Der Spinoza-Effekt. Berlin 2005
- Hopkins, Julie: Feministische Christologie. Mainz 1996
- Hume, David: Dialoge über die natürliche Religion. Hamburg 1968
- Meier-Seethaler, Carola: Jenseits von Gott und Göttin. Plädoyer für eine
spirituelle Ethik. München 2001

 

Gerhard Bott: Die Erfindung der Götter - Essays zur Politischen Theologie

[22.12.2009]

Bott schreibt sein faszinierendes Buch mit dem Mut und der Wut der Verzweiflung. Mit Fanfarenstössen kämpft er gegen die Mauern an, hinter denen sich das akademische Establishment verschanzt, und das er die „Urvatergemeinde“ nennt.
Dies zu Recht, denn was von der etablierten Theologie, der Archäologie und Ethnologie seit zwei Jahrzehnten an Geschütz gegen die EntdeckerInnen vorpatriarchaler Kulturen aufgefahren wird, reicht von bewusster Zensur bis zum Rufmord und entbehrt jeder wissenschaftlichen Seriosität. So etwa stehen Namen wie Marija Gimbutas oder James Mellaart seit Jahren auf dem Index, ohne dass eine sachliche Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Dass auch junge Akademikerinnen eifrig in diesen Chor einstimmen, ist die Folge eines verminten Karrierepfads, der nur durch Unterwerfung unter den Mainstream zum Ziel führt.

Worum geht es konkret in den „Essays zur politischen Theologie“, wie der Untertitel des Buches heisst?
Erstens um die Entlarvung des patriarchalen Fundamentalismus’, das heisst um die "Irrlehre", dass die Idee von einem "Vatergott als allweltlichem Schöpfergott" am Beginn der Religionsgeschichte steht, und dass es diesen Urvater auch in der menschlichen Urgesellschaft gegeben habe. In Wahrheit geht dem die paläolithische Vorstellung von der "Grossen Mutter allen Lebens und Todes" voraus, und ist die Urstruktur der menschlichen Gesellschaft nicht die Familie von Vater-Mutter-Kind, sondern die mütterliche Blutsfamilie mit der rein weiblichen Abstammungslinie.
Zweitens geht es um das Schattenboxen gegen die so genannte Matriarchats-Theorie, der man das Schreckgespenst einer Weiberherrschaft unterstellt, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Bott grenzt sich mit aller Schärfe von Ausdrücken wie "Matriarchat" oder "matriarchal" ab, weil vorpatriarchale Kulturen keine Gewaltstrukturen und keine Herrschaft kennen, was mit dem Wortstamm "arche" suggeriert werde.
Sein Rundumschlag gegen alle Autorinnen, die sich der kritisierten Termini bedienen, ist als Pauschalverurteilung insofern ungerecht, als dass diejenigen, die sich "Matriarchatsforscherinnen" nennen, ausdrücklich von herrschaftsfreien Kulturen als ihrem Forschungsgegenstand ausgehen. Zutreffend aber ist, dass die weitaus überwiegende Zahl aller Wissenschaftler und Laien unter "Matriarchat" eine Herrschaft der Frauen verstehen, was es den konventionellen Lehrstuhl-InhaberInnen leicht macht, feministische Forscherinnen zum Abschuss frei zu geben.
Dagegen kommt die Neudefinition von "Matriarchat", bei welcher der Wortstamm "arche" nicht als Herrschaft, sondern in seiner zweiten Bedeutung als "Anfang" zugrunde gelegt wird, kaum gegen die alte Tradition an, "Matriarchat" und "Patriarchat" als Parallel-Begriffe mit reziproken Machtstrukturen zu verstehen.

Unabhängig von diesem Wortstreit hält Bott an folgenden Fakten fest:
- Die Urmutter-Mythen sind älter als die Ureltern-Mythen und diese wiederum älter als der Urvater-Mythos.
Ein unübersehbarer Hinweis darauf sind die archäologischen Zeugnisse aus der jüngeren Altsteinzeit und der Jungsteinzeit. Wurden in der erstgenannten Phase Hunderte weiblicher Skulpturen in ganz Europa von Spanien bis Sibirien gefunden, so kamen aus der späteren Jungsteinzeit in Vorderasien und Europa Tausende solcher Figuren an den Tag, welche die Zahl der männlichen Darstellungen bei weitem übertreffen. Ab dem 7. vorchristlichen Jahrtausend stehen die weiblichen Skulpturen in einem eindeutig religiösen Zusammenhang als Göttinnen und als Priesterinnen. Deshalb ist es nahe liegend, die ältesten Frauenstatuetten wie die jüngst entdeckte "Venus vom Hohle Fels" in der Schwäbischen Alb als göttliche Urmütter zu deuten.
Die Menschen der Altsteinzeit lebten in "Blutsfamilien" zusammen, das heisst, in Verwandtschaftssystemen unilinearer Matrilinearität. Es gab noch keine "Paarungsfamilie" im Sinne unserer Kleinfamilie. Der kausale Zusammenhang zwischen Sexualität und Schwangerschaft konnte noch nicht erfasst werden, weil die Frauen während ihrer 3-5 jährigen Stillzeit durch natürliche Ovulationshemmung nicht schwanger werden konnten.
Die biologische Evolution des Menschen verlief parallel zu jenen Affenarten, bei denen die sexuelle Wahl von den Weibchen ausgeht und der Rang der Männchen von der sozialen Stellung ihrer Mütter abhängt.

Im Folgenden definiert Bott sehr präzis die aus der Ethnologie bekannten Verwandtschaftsbegriffe: Matrilinearität (Verwandtschaftsrechnung nach der mütterlichen Linie), Matrilokalität bzw. Uxorilokalität (Aufenthalt des Sexualpartners in der mütterlichen Blutsfamilie der Frau), was immer mit Exogamie, d.h. mit sexueller Praxis ausserhalb der Blutsfamilie verbunden ist. Die bilineare und patrilineare Verwandtschaftsrechnung führen zu virilokalem oder patrilokalem Wohnsitz der Frau bei ihrem Partner.
In vorpatriarchalen Gemeinschaften geht der Bedeutung des leiblichen Vaters das Avunkulat, das heisst die soziale Vaterrolle des Mutterbruders, voraus.
Diese und weitere Klarstellungen ermöglichen es Bott, den schrittweisen Übergang von der matrilinearen Blutsgemeinschaft zur patriarchalen Familie plausibel zu machen.

Neu ist Botts historische Gliederung der Jungsteinzeit (Neolithikum) in vier Phasen oder Modi, womit er den Weg von den frühesten friedlichen Ackerbauern bis hin zu den ersten Herrschaftsstrukturen und den ersten Eroberungskriegen nachzeichnet. Spielt im Modus I und II (zwischen dem 10.-8. Jahrtausend vor Chr.) das Frauenkollektiv die Hauptrolle im mit Hacke und Ziehhacke betriebenen Ackerbau, so ändert sich dies grundlegend im Laufe des Modus III (7000–4000 vor Chr.).
Von da an wenden sich die Männergruppen, die sich lange Zeit der Jagd gewidmet hatten, der Rinderhaltung zu, die sie nach der Zähmung von Jungtieren in Herden auf die Weide treiben. Schaf und Ziege wurden zwar schon vorher als Haustiere gehalten, aber die immer grössere Anzahl von Rindern wird zu einem bedeutenden Produktions- und Tauschmittel und führt zum Reichtum einzelner Männerkollektive. Allerdings drängen erst die weiträumigen Wanderungen von Rinderhirten ab 5500, wie die der so genannten "Bandkeramiker", den von Frauen dominierten Ackerbau in seiner Bedeutung zurück. Der mobile Hirte behält seinen hohen sozialen Status, während die mitwandernden Frauen ihre Äcker stets neu anlegen und von vorne beginnen müssen. Schliesslich wird durch die Erfindung des Rades und des Ochsenpflugs die männliche Kompetenz auch im Ackerbau gestärkt, sowie das Bedürfnis der Brüder, nicht nur zusammen zu arbeiten, sondern auch zusammenzuleben, was das Domizil in Richtung Virilokalität bzw. Patrilokalität verändert.
Im Grossen und Ganzen handelt es sich bei der ersten Überlagerung von Rinderhirten über indigene Wildbeuter (Sammlerinnen und Jäger) um einen sanften Vorgang, bei dem ganz Mittel- und Westeuropa vom Osten her mit den neolithischen Techniken vertraut gemacht wird. Allerdings sind bereits aus dieser Zeit (4900 vor Chr.) die ersten Gewalttaten belegt, die wohl im Streit um neue Acker- und Weideflächen entstanden. In Talheim in Deutschland wurden 34 Skelette von Männern, Frauen und Kindern gefunden, die von hinten (auf der Flucht?) mit Steinäxten erschlagen wurden.
Erst mit der fortgeschrittenen Metallurgie seit dem 4. Jahrtausend wurde es dann möglich, Waffen aus Bronze herzustellen und damit eine Voraussetzung für kommende kriegerische Eroberungen zu schaffen. Dazu kamen die Zähmung des Pferdes nördlich des Kaukasus und die durch Klimaverschlechterung erzwungene Landsuche von so genannten Kurgan-Völkern (Kurgane sind Hügelgräber) aus dem Osten. Es sind die Sumerer, welche in Mesopotamien, und die Indoeuropäer, die in Nordindien, Persien und in die östlichen Mittelmeerländer einfallen. Die erste Welle dieser kriegerischen Stämme erfolgte mit von Pferden gezogenen Streitwagen, die zweite Welle ab 2000 vor Chr. durch Reiterkrieger.
Bei der Schilderung dieser historischen Abfolge gelingt es Bott, technische, soziale, familiäre und mythologische Strukturveränderungen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu schildern. Mit dem Hirtendasein verstärkt sich der Status der Männer sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Mit der aus der Tierzucht gewonnenen Klarheit über den Zeugungsvorgang erhält die männliche Sexualität einen hohen Stellenwert, was sich auch kultisch ausdrückt, indem neben die urgeschichtliche Muttergöttin der männliche Fruchtbarkeits- und Stiergott tritt. Erst allmählich wird die doppelte Verwandtschaftsrechnung (Bilinearität) durch die Betonung der patrilinearen Verwandtschaft und durch den patrilokalen Wohnsitz mit dem Vater als Familien-Oberhaupt ersetzt. Von da an wird die Paarungsfamilie oder Paarfamilie zur Norm und die Ehe zur festen Einrichtung unter männlicher Kontrolle. Damit im Zusammenhang steht die Umformung der Kollektivwirtschaft zum Privateigentum, und als letzter Akt folgt die theologische Umbildung des Götterhimmels zu männlichen Hauptgöttern und schliesslich zum monotheistischen Vatergott.

Der ebenso umfangreiche zweite Teil des Buches enthält ausführliche Anmerkungen zu bekannten Kulturtheorien aus der Wissenschaftsgeschichte, und hier setzt Bott seinen ganzen Scharfblick ein, um deren ideologisch-irrationale Komponenten ad absurdum zu führen. Das beginnt mit der Auseinandersetzung mit Bachofen, Engels und Freud, führt über die kritische Würdigung bekannter Archäologen und Ethnologen zur äusserst kritischen Beleuchtung jüngster Archäologie-Ausstellungen und zur vernichtenden Kritik an populistischen Männerphantasien in den Medien.

Auf mich wirken Botts Fanfarenstösse wie die Befreiung aus einem Albtraum, die besonders kulturkritische Frauen aus ihrer Resignation wach rütteln könnte.
Deshalb hoffe ich, dass das Buch grosse Verbreitung auch unter jungen LeserInnen findet und eine ebenso sachliche wie engagierte Diskussion auslöst. In diesem Fall wäre der Kampf um unverfälschte Kulturtheorien noch nicht verloren.

Literatur:
Gerhard Bott: Die Erfindung der Götter – Essays zur Politischen Theologie, BoD (Books on Demand) 2009

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

[22.12.2009]

Schon im Vorfeld der noch laufenden Ausstellung in Stuttgart „Eiszeit – Kunst und Kultur“ wurde über die jüngste Entdeckung der so genannten „Venus vom Hohle Fels“ wild spekuliert. Die sexistische Interpretation, dass es sich bei dieser und anderen weiblichen Figuren aus der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) um eine Art Sexpuppen handle, verrät allerdings mehr über die Mentalität der Interpreten als über den geistigen Hintergrund der damaligen Zeit.
Inzwischen wurde die hervorragend gestaltete Ausstellung in allen grossen Zeitungen besprochen und die hohe Kulturleistung der Menschen im Zeitraum von 40’000-15’000 vor heute gewürdigt. Neben der sehr berechtigten Begeisterung über die ersten Musikinstrumente, über die raffinierten Werkzeuge und die lebensnahen Tierskulpturen blieben die Kommentare zu den mehr als hundert weiblichen Statuetten allerdings merkwürdig blass. Das liegt wohl unter anderem daran, dass die Schrifttafeln zu den betreffenden Vitrinen im Museum und die Texte im offiziellen Ausstellungskatalog wenig Anhaltspunkte für eine plausible Interpre-tation bieten.
Unter dem Stichwort „Und keiner weiss, warum“ enthält man sich jeder Deutung und weist nur beiläufig darauf hin, dass die Statuetten unter anderem als Ahnfrauen oder Göttinnen verstanden wurden. Eindeutig sei nur die Betonung der sexuellen Merkmale, wobei die Variation der Figuren von sehr beleibt bis schemenhaft schmal vielleicht dem Anschauungsunterricht junger Frauen zum Vorgang von Schwangerschaft und Geburt gedient habe. Letztere Vermutung wirkt allerdings grotesk, wenn wir bedenken, dass die Frauen der Frühzeit reale Vorbilder in ihren Müttern und Schwestern hatten.
Dagegen wird die Tatsache, dass viele der kleinsten Statuetten durchbohrt oder mit Ösen versehen sind und daher vermutlich als Amulette getragen wurden, nicht weiter beachtet. Amulette hatten ja seit jeher eine Schutzfunktion und weisen damit auf eine sakrale Schutzmacht hin. Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir gar nicht hinterfragen sollen, was sich hinter den weiblichen Figuren verbirgt.
Am auffälligsten ist die Deutungsabstinenz bei den Vitrinen aus der Periode des so genannten „Gravettien“ (30’000–22’000 vor heute), die mit dem Titel „Starke Frauen“ überschrieben sind. Sie enthalten meist füllige Frauenfiguren aus wertvollem Material (Elfenbein, Kalkstein oder Ton), die trotz ihrer Kleinheit (zwischen 3 und 11cm Höhe) äusserst kunstvoll gearbeitet sind. Die meisten scheinen eine Schwangerschaft anzudeuten, eine von ihnen den Geburtsvorgang selbst. Daneben finden wir schon aus dieser Zeit stark stilisierte Figuren, die auf die Hervorhebung der Brüste und der Schoss-Schenkelregion reduziert sind. Es wird zwar erwähnt, dass die „starken Frauen“ des Gravettien zu Hunderten in ganz Europa von Nordspanien bis nach Sibirien aufgefunden wurden, doch wird daraus kein Schluss auf ihre kulturelle Bedeutung gezogen.
Die berühmteste Statuette aus dem Gravettien ist die „Venus von Willendorf“ aus Österreich, die in Stuttgart nur als Photographie zugegen ist, hingegen sind die Statuetten von Lespugue aus Frankreich, die von Kostenki aus Russland, eine ganze Reihe weniger bekannter aus Italien und das berühmte Frauenköpfchen einer Priesterin aus Dolni Vestonice/Südmähren im Original zu sehen. Am eindrücklichsten wirkt die relativ grosse so genannte „Dame mit dem Horn“, ein unglaublich gut erhaltenes Steinrelief aus Laussel in einer eigenen Vitrine. Diese nackte Frauenfigur, welche die eine Hand auf den schwangeren Leib legt und in der anderen das Mondhorn mit kalenderartigen Strichmarkierungen empor hält, strahlt so viel Lebenskraft und Würde aus, dass ihre sakral-kosmische Bedeutung eigentlich unübersehbar ist. Dazu aber fehlt jeder Kommentar.
Im Gegensatz dazu wird die verschwindend kleine Anzahl von Phallusdarstel-lungen zum schöpferischen Prinzip hochstilisiert. Im Katalog wird ihnen ein eigenes Kapitel unter dem Titel „Eindeutig männlich“ gewidmet. Zu einem 19,2cm langen Steinobjekt in phallischer Form, das Gebrauchsspuren zeigt und vermutlich als Werkzeug benutzt wurde, lesen wir den nebulösen Satz: „Das Arbeitsgerät war möglicherweise Symbol für schöpferische Kraft und Fruchtbarkeit, die auf die bearbeiteten Steingeräte übertragen wurde.“ Das ist umso unplausibler, als die Menschen der jüngeren Altsteinzeit noch keine Gewissheit über den männlichen Zeugungsanteil haben konnten. Wie Gerhard Bott in seinem Buch „Die Erfindung der Götter“ darlegt, war der kausale Zusammenhang zwischen Sexualität und Schwangerschaft schon deshalb nicht offensichtlich, weil die Frauen während ihren 3-5 jährigen Stillzeiten durch natürliche Ovulationshemmung nicht schwanger werden konnten.
Auch aus der Periode des Magdalénien (16'000–12'000 vor heute) sehen wir in Stuttgart eine Vielzahl von Frauenfigürchen in stark stilisierter Form. In Seitenansicht dargestellt dominiert das Schoss-Gesäss-Dreieck, während der Oberkörper nur durch einen schmalen Stab angedeutet ist. Dazu die berühmten Ritzfiguren tanzender Frauen aus Gönnersdorf, die den Gedanken an sakralen Tanz nahe legen. Die Aussteller schliessen in anderem Zusammenhang die Existenz von „Schamaninnen“ zur damaligen Zeit zwar nicht aus, doch eines scheint einem absoluten Tabu zu unterliegen: Die weibliche Lebenskreativität als eine religiöse Dimension im Sinne des Weiblich-Göttlichen zu deuten. Stillschweigend bleibt göttliche Schöpferkraft - wider alle bessere Anschauung - dem männlichen Prinzip vorbehalten.
Das zeigt sich besonders deutlich im Saal der frühesten Fundgegenstände aus der Zeit des Aurignacien, 40'000–30'000 vor heute, zu denen der Star der Ausstellung, die „Venus vom Hohle Fels“ gehört. Diese bisher älteste menschliche Skulptur überhaupt, die ca. 10'000 Jahre älter ist als die Venus von Willendorf, demonstriert die generativen Fähigkeiten der Frau in der ausgeprägten Form der Vulva und durch die grossen nährenden Brüste. Dass der Kopf fehlt und durch eine Öse ersetzt ist, versteht Bott als Zeichen ihrer überindividuellen Bedeutung als das Weiblich-Mütterliche schlechthin. So sind die aus der gleichen Periode stammenden Steinreliefs in Form von Vulven wohl ebenso nicht als Sexsymbole, sondern als Kurzform für die weibliche Gebärfähigkeit zu deuten.
Nicholas Conard als Leiter der jüngsten Ausgrabungen sieht dies allerdings anders. Er möchte nicht von der „Venus“ vom Hohle Fels sprechen, sondern lieber von der „Schwäbischen Eva“. Nach seiner Einschätzung scheint sie „ein Ausdruck der Sexualität zu sein, der wahrscheinlich in direkter oder indirekter Verbindung zur Fruchtbarkeit steht“. (Katalog S. 271)
Diese vage Aussage ist umso merkwürdiger, als in der auf die jüngere Altsteinzeit folgenden Jungsteinzeit Frauenfiguren zu Tausenden in allen Varianten im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und in Indien gefunden wurden, die man als Idole bezeichnete und die zum Teil als Weihegaben in Tempeln deponiert waren. Von den aus wertvollstem Material gearbeiteten weiblichen Sakralfiguren in Catal Höyük aus dem 6. vorchristlichen Jahrtausend über die stark abstrahierten Violin-Idole aus Anatolien und die grösseren kykladischen Marmorfiguren aus dem 3.vorchristlichen Jahrtausend können wir eine Linie zu den Muttergöttinnen der frühen Hochkulturen im Alten Orient ziehen. So besonders auf Zypern, auf Kreta und in Syrien/Palästina. Lange bevor die „Eva“ als die erste Menschenfrau im Alten Testament erscheint, war sie eine Göttin, die „Mutter alles Lebendigen“ als Schöpferin der Menschen, Tiere und Pflanzen (Silvia Schroer 2004). Das heisst, ihre Lebenskreativität war nicht auf den menschlichen Nachwuchs beschränkt, vielmehr hatte ihre „Fruchtbarkeit“ eine kosmische Dimension.
Einen ähnlichen Substanzverlust ihrer Deutung wie die „Eva“ hat auch die „Venus“ erfahren. Schon bei den Römern wurde sie nicht mehr als die grosse Göttin Venus verstanden, wie sie im Morgen- und Abendstern am Himmel erscheint, sondern als Liebesgöttin im Sinn des idealen Modells einer begehrenswerten Frau. Die Bezeichnung „Venus“ für die Figur aus Willendorf vor hundert Jahren war denn auch ironisch gemeint, weil sie ja dem gängigen Schönheitsideal in keiner Weise entsprach.
Am plausibelsten wäre der Vorschlag von Gerhard Bott, den ältesten Frauenskulpturen den Namen „Gaia“ zu verleihen, jener Erdgöttin, die der Dichter und Mythenkenner Hesiod noch als „Mutter aller Götter“ verstand. Nach ihm ist sie als erstes Wesen dem Chaos entstiegen (was zu dieser Zeit nicht „Unordnung“, sondern „gähnende Leere“ bedeutete) und brachte aus sich heraus ihre Söhne, den Himmel, das Meer und die Unterwelt hervor. Mit dem himmlischen Uranos zeugte sie dann die folgenden Göttergeschlechter. Der Vergleich der „Venus vom Hohle Fels“ mit der Urgöttin Gaia, die Hesiod die „Breitbrüstige“ nennt, ist jedenfalls sehr viel nahe liegender als alle Versuche, sie zur sexuellen Leitfigur zu erklären.
Bis heute allerdings hält der Mainstream aller Forscher hartnäckig an der These des Urvaters und Schöpfergottes fest, beziehungsweise am Primat der männlichen Zeugungskraft auch im kulturellen Sinn. Bott nennt diese These zu Recht eine „Politische Theologie“, weil sie nicht nur die patriarchale Verfassung von Staat und Kirche, sondern auch die von Familie und Gesellschaft stützt.

Literatur:
-Eiszeit- Kunst und Kultur. Archäologisches Landesmuseum, Stuttgart, 2009
-Gerhard Bott: „Die Erfindung der Götter – Essays zur Politischen Theologie“, BOD (Books on Demand) 2009

Wirtschaftssystem: Allgegenwärtige Gier

25.08.2009

In den letzten Wochen und Monaten war viel von der Geldgier in der Finanzbranche und bei Topmanagern die Rede. Es wurde aber auch auf die Mittäterschaft von uns allen hingewiesen, die im verantwortungslosen Verbrauchen von Konsumgütern aller Art bestehe, u. a. in einem Leserbrief im "Bund" vom 13. August unter dem Titel "Allgegenwärtige Gier".

So berechtigt solche Stellungnahmen sind, so treffen sie aus meiner Sicht den entscheidenden Kernpunkt der Sache nicht.
Die individuelle Gier entsteht ja nicht einfach aus persönlicher Schwäche, sondern ist eine von unserem Wirtschaftssystem verordnete Gier. Sobald wir – aus edlen Motiven- unseren Konsum drosseln, bremsen wir das Wachstum und damit den Motor unserer Wirtschaft, der ständig neue Produkte, Versuchungen und Konsumzwänge schafft.
Moralische Appelle an die KonsumentInnen fassen das Übel jedenfalls nicht an der Wurzel. Vielmehr muss endlich die Frage gestellt werden: Was ist das für eine Volkswirtschaft, die nur durch die Gier ihrer Mitglieder aufrecht erhalten werden kann?
Die Analyse dieser Frage ist nicht nur grundsätzlicher, sondern für neoliberale Glaubensanhänger auch sehr viel peinlicher als die Empörung über die – nur noch pathologisch zu nennenden – Exzesse einzelner Führungskräfte.

Kirchenaustritt: Fehlentscheid des Papstes

[09.02.2009]

Betrifft: Kirchenaustritt

Sehr geehrte Kirchgemeinde,

ich bitte Sie, meinen Austritt aus der katholischen Kirche, der ich nun seit bald 82 Jahren angehöre, zur Kenntnis zu nehmen und mich aus Ihrem Mitgliederverzeichnis zu streichen.
Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass dieser Schritt nicht aus finanziellen, sondern ausschliesslich aus moralischen Gründen erfolgt. Obwohl ich seit Jahrzehnten dem katholischen Religionsverständnis fern stehe und keinerlei kirchliche Angebote in Anspruch nahm, habe ich all die Jahre die Kirchensteuer bewusst und gerne bezahlt. Dies nur deshalb, weil ich das soziale Engagement katholischer Einrichtungen in der Stadt Bern wie das der "Prärie" im Rahmen der Dreifaltigkeitskirche hoch schätze, wie auch die Mitwirkung am "Haus der Religionen" und den unabhängigen Geist des Pfarrblatts.
Seit dem Pontifikat Benedikt XVI. musste ich allerdings eine Tendenz in der Kirchenpolitik wahrnehmen, die mit ihrer Intoleranz die Hoffnungen des Vatikanischen Konzils zunichte macht. Nach den höchst bedauerlichen Tiefschlägen gegen die Befreiungstheologie in Südamerika sind die antijüdischen Tendenzen in der Liturgie für mich äusserst befremdlich.
Schliesslich machen mir die Meldungen der letzen Tage, wonach der Papst die Exkommunikation fundamentalistischer Bischöfe aufhob und neben denen, die sich gegen die Religionsfreiheit aussprechen, auch den Holocaust-Leugner Richard Williamson wieder in die Arme schliesst, den weiteren Verbleib in dieser Kirche unmöglich.
Als Philosophin und Ethikerin sehe ich in der Vorgehensweise des Vatikans einen schwerwiegenden Verstoss gegen Humanität und Menschenwürde. Auch ist mir die unterwürfige Haltung der Schweizer Bischöfe nicht nachvollziehbar, umso mehr als Bürgerin eines Landes, in dem die Leugnung des Holocaust strafrechtlich ver-folgt wird.
Wenn dann noch die Rede davon ist, dass der Heilige Stuhl dem Leugner mit "väterlicher Einfühlsamkeit" begegne, so kann ich das nur als zynische Missachtung im Blick auf die Nachkommen der jüdischen Opfer verstehen. Ich selbst habe keine jüdischen Wurzeln und bin insofern nicht direkt betroffen, aber ich will aus humanethischen Gründen mit der katholischen Kirche unter einer solchen Führung nichts mehr zu tun haben.
Die eingesparte Kirchensteuer werde ich in Zukunft der "Prärie" und dem "Haus der Religionen" als Spenden überweisen.

Bern, 27. Januar 2009, Holocaust-Gedenktag
Carola Meier-Seethaler

P.S. Ein Duplikat dieses Schreibens geht an das Bischöfliche Ordinariat zu Bischof Kurt Koch in Solothurn.

Statement zum Entscheid des Papstes, gehalten am Forum Luzern, 05.02.2009:

Für mich war die Nachricht von der Aufhebung der Exkommunikation der 4 Bischöfe nur der letzte bittere Tropfen, der meinen seit Jahren anschwellenden Unmut über den Kurs des Papstes zum Überlaufen brachte. Deshalb fasste ich spontan den Entschluss, aus der Kirche auszutreten. Dies vor allem im Blick auf die Wiederannäherung an den Holocaust-Leugner Williamsen.
Dieser Vorgang trifft den positiven Dialog zwischen Katholiken und Juden besonders hart. In meinen Augen ist ein solcher Fauxpas schlicht unverzeihlich und hätte in jeder anderen Institution zur Rücktrittsforderung an den obersten Chef geführt.
Die beschwichtigenden Reaktionen aus Rom und von der Schweizer Bischofs-konferenz sind jedenfalls weder überzeugend, noch ausreichend. Man kann doch nicht erwarten, dass die erzkonservative Piusbruderschaft ihre Gesinnung aufgibt und mehr als ein Lippenbekenntnis ablegt.
Aus meiner Sicht ist der Fehlentscheid des Vatikans aber nicht nur ein Rückschritt hinter den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils, auf das ich grosse Hoffnungen gesetzt hatte. Als Philosophin empfinde ich diesen Entscheid auch als Verrat an der Aufklärung. Bekennt sich doch die Bruderschaft Pius X. zu Vorstellungen, die an mittelalterliche Wahnvorstellungen erinnern, wie z.B. die von der Teufelsbesessenheit. Ebenso verstörend ist die Auffassung des jüngst vom Papst eingesetzten Weihbischofs von Linz, wonach Naturkatastrophen, die ja wahllos über Menschen hereinbrechen, eine Strafe Gottes darstellen. Solche inhumanen Interpretationen entsprechen zwar nicht explizit der Meinung des Papstes, aber sein Glaube an die Hölle und die Duldung des Exorzismus als priesterliche Praxis sind genauso befremdlich.

Umso irritierender ist die unversöhnliche Haltung Benedikts XVI. gegenüber der Befreiungstheologie und allen Theologen, welche die Enge scholastisch formulierter Dogmen überschreiten wollen. Von daher wirkt die Sorge um die Einheit der Kirche wenig überzeugend; die rückwärtsgewandte Haltung des Papstes erinnert vielmehr an den Kulturkampf am Ende des 19. Jahrhunderts, bei dem die Traditionalisten gegen den Geist der Moderne kämpften. Bekanntlich führte dies zur Abspaltung der Altkatholiken, die sich dem Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes und seiner Unduldsamkeit gegenüber aufgeschlossenen Ideen nicht beugten.
Auch die heutige Nachricht, dass Daniel Vasella als höchstbezahlter Manager der Schweiz zum Ethikexperten bei Radio Vatikan bestellt wurde, steht in provozierendem Gegensatz zur Kirche für die Armen, wie sie die Befreiungstheologie fordert.
(inzwischen erwies sich dieser Schachzug der Kirche als Eigentor: Vasella wurde wieder ausgeladen, weil Novartis u.a. auch Anti-Baby-Pillen verkauft....)
 

Unzeitgemässe Betrachtungen zur Fussball-Ideologie

[Juni 2008]

Fussball, so belehrt uns das Buch von Josef Hochstrasser(1), ist eine moderne Form von Religion, und zwar die einer "Primärreligion“" Nur macht er dabei eine Reihe von Fehlinterpretationen, die der kulturgeschichtlichen Nachprüfung nicht standhalten.
Auch wenn man die Unterscheidung zwischen Offenbarungs- und Schriftreligionen einerseits und so genannten Naturreligionen im Sinne von "Primärreligionen" andererseits akzeptiert, hat die Fussball-Religion bei näherem Zusehen nicht das geringste mit dem kosmischen Einheitsgefühl zu schaffen, das für frühe Religionsvorstellungen so typisch ist.
Hochstrasser bemüht die chinesische Tao-Lehre und die Symbole von Kreis und Kugel als Ausdruck mystischen Einheitserlebens, um die Faszination des runden Leders zu erklären. Tatsächlich aber wurde das Fussballspiel im dritten Jahrhundert v. Chr. von chinesischen Herrschern als militärisches Ausbildungsprogramm eingeführt. Von Beginn an ging es dabei um Kampf und Sieg über einen feindlichen Gegner, eine Form der militärischen Ertüchtigung, die später von den Griechen Spartas und auch von den Römern übernommen wurde. Im europäischen Mittelalter waren brutale Fussballspiele zwischen rivalisierenden Dörfern und Städten berüchtigt und wurden daher von der Obrigkeit und der Kirche teilweise verboten.
Erst im 18. und 19. Jahrhundert gewann der Fussball-Sport in England an den Eliteschulen wie Cambridge und Oxford seine zivilisierte Form mit festen Regeln und dem Gesetz des Fair-Play. Wie in England, so stammten auch auf dem Kontinent die Mitglieder der Fussballvereine zunächst aus der Oberschicht, und in Deutschland verband sich deren Sportgeist mit militaristischer Mentalität.
Relativ spät wurde der Fussball auch eine Domäne der Unterprivilegierten, angeregt von engagierten Geistlichen in den englischen Industriestädten Manchester und Liverpool, um die Arbeiter in ihrem solidarischen Selbstbewusstsein zu stärken. Bis heute hat der Fussball in vielen Drittweltländern eine ähnliche Funktion, während er in den reichen Industrieländern zum kommerzialisierten Massen-Event mutierte.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte er sich zum Volks- und Nationalsport entwickelt, und in internationalen Wettkämpfen stiegen die erfolgreichsten Spieler zu eigentlichen Nationalhelden auf. Das Letztere wird freilich zur Illusion, seit sich Spieler ganz verschiedener Herkunft von nationalen Clubs kaufen lassen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Europa-Meisterschaften ist von einer eigentlichen Massenhysterie zu sprechen, die von den Sponsoren bewusst und mit allen Mitteln modernster Werbung angeheizt wird, um möglichst maximale Gewinne aus der aufgeputschten Festlaune zu ziehen.
Doch was hat dies alles mit Religion zu tun?  Was hier offensichtlich manipuliert wird, ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft im weitesten Sinn, nach begeisternden Zielen in einer durch und durch rationalisierten und kommerzialisierten Welt. Dass die Feststimmung nur unter der Wirkung von exzessivem Alkoholgenuss zustande kommt, spricht für deren Irrationalität und für die Entfesselung unbewusster Motive.
Als Psychologin stimmten mich gewisse Botschaften der allgegenwärtigen Werbeplakate nachdenklich. Auf einem von ihnen stand zu lesen: "Das Runde gehört in das (Vier-)Eckige. Auch beim Fussball." Entspricht dies nicht exakt der Sexualsymbolik Sigmund Freuds? Der starke Mann schiesst den Ball in das weibliche Tor, wobei die Spannung steigt, je hartnäckiger das Tor verteidigt wird, und wenn der Torschuss endlich gelingt, bricht orgiastischer Jubel aus. In Bern war wochenlang vor Eröffnung der Spiele die Bahnhofsfassade mit einem riesigen Plakat bedeckt, auf dem vier Fussballer demonstrativ an ihre Hoden greifen. Das sei die typische Abwehrhaltung beim Elfmeter, wird mir erklärt.
Doch wie erklärt sich, dass man ausgerechnet diese Spielsekunde als Werbemotiv für die Europameisterschaften auswählte?
Wie auch immer, so kann es keinen Zweifel geben, dass Fussball in erster Linie Männersache ist. Wenn zunehmend auch Frauen mit Vorschulkindern in die Stadien strömen, so oft nicht aus purer Begeisterung, sondern im Wissen, andernfalls als Restfamilie allein zu bleiben.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Meine Erwägungen richten sich nicht gegen das Fussballspiel als solches und auch nicht gegen Frauenfussball. Es ist ein intelligenter Sport für junge Menschen, die ihren vollen Einsatz und den solidarischen Zusammenhalt in der Gruppe erproben. Nur ist die Tatsache, dass der Damenfussball so wenig öffentliches Prestige geniesst, ein Indiz dafür, dass es beim Herrenfussball noch um ganz andere Dinge geht.
Was das private Verhältnis der Geschlechter während den Fussball-Grossereignissen anbelangt, so ergeben jüngste Untersuchungen kein sehr erfreuliches Bild (2). Einerseits ist von sexueller Vernachlässigung der Frauen die Rede, andererseits von der Zunahme von Gewalt gegen Frauen, wenn die von Männern favorisierte Mannschaft im Spiel unterliegt. Umso bemerkenswerter war die in den Stadien laufende Karten-Kampagne gegen Frauenhandel und Gewalt gegen Frauen unter dem Patronat des bekannten Fussballstars Murat Yakin.
Bedenken politischer Art äusserte der Zürcher Soziologe Christian Schmid, wenn er von der Vermarktung des öffentlichen Raums spricht (3). Es sei fragwürdig, ganze Teile einer Stadt als Fanzonen an Sponsoren zu verkaufen und es den privatwirtschaftlichen Interessen zu überlassen, was dort stattfinden darf. Dazu kommt, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung keinerlei Interesse am Fussball hat und sich in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt und vom Lärm belästigt fühlt.
Dies ganz abgesehen vom überproportionalen Raum, den das Thema Fussball in der Tagespresse, in Radio und Fernsehen einnimmt. Wochenlang entstand der Eindruck, als gäbe es kein wichtigeres Problem auf sämtlichen Kontinenten dieser Welt als die aktuellen Spielresultate. Das Verdrängen der eigentlich brisanten politischen Themen erinnert an die alte Strategie der Herrschenden: Brot und Spiele für das Volk, um es abzulenken und bei Laune zu halten.
Seit einem Jahr tickt nun die Fussballuhr neben dem Berner Zeitglockenturm, um uns zu verkünden, wie lange es noch geht, bis es Weihnachten wird und der Erlöser Fussball kommt. Besonders aufdringlich wirkt die gleichgeschaltete und flächendeckende Fussball-Werbung sämtlicher Geschäfte in ihren Auslagen, besonders peinlich diejenige der Kirchen. Offenbar sollten die von den katholischen und reformierten Kirchengemeinden kreierten Fussball-Foulards Seelen unter der Masse der Fans fischen. Und Fussbälle prangten sogar auf dem Deckblatt einer Berner Kirchenzeitung, schön aufgereiht als Halter brennender Kerzen im Innern einer der bekanntesten Stadtkirchen. Fussball also doch eine Religion?
Auch die viel gepriesene Völkerverständigung ist mit Vorbehalt aufzunehmen. Man mag ja mit den Vertretern verschiedenster Nationen in freundliche Kontakte kommen, aber doch nur mit solchen, die sich den Luxus der Reise und der teuren Tickets leisten können. Eigentliche Verständigung bräuchte mehr als Bierseligkeit und das Einstimmen in anfeuerndes Gegröle. Nur all zu leicht kann die Stimmung je nach Spielausgang kippen, und bei den Ultras unter den Fans in Aggression umschlagen. Dafür stehen schliesslich die Sicherheitskräfte in beispielloser Grössenordnung und nota bene im Sold der SteuerzahlerInnen bereit.

Literatur:
1) Josef Hochstrasser: Religion ist heilbar- Glaube, Schule, Fussball. Diese drei, Zytglogge, Bern 2008
2) Susanne Turra: Fussball und Bier- für einige Männer ist das zu viel, „Die Südostschweiz“, 18. Juni 2008, S.3
3) Christian Schmid; Die Stadt wird zunehmend als Ware an die Meistbietenden verkauft, NZZ 31.Mai/1.Juni 2008, S.57

Der Denker und die Denkerin

[Juni 2008]

Was das historische Museum in Olten in einer hervorragend dargebotenen Ausstellung zeigt, ist in mehrerer Hinsicht sensationell.

Da liegen 1200 Objekte aus kostbaren Materialien im Original vor uns, die bis zu 8000 Jahre alt sind. Sie alle stammen aus dem Raum des heutigen Rumänien und gehören zur Kultur des "Alten Europa", die lange vor der indoeuropäischen Einwanderung auf dem Balkan, in der Ukraine, in Griechenland, Zypern und Kreta verbreitet war. Einiges davon hatten bereits russische, griechische und bulgarische Archäologen, und nicht zuletzt die litauisch-amerikanische Archäologin Marija Gimbutas seit den 1960er Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch hatte bis zum Mauerfall ein derart gross angelegter Kulturaustausch mit den kommunistischen Ländern keine Chance. Aber selbst in den seither fast 20 vergangenen Jahren verblieb, so beklagen die rumänischen Forscher zu Recht, die grossartige Steinzeitkultur Südosteuropas im Schatten der westlichen Aufmerksamkeit.

In Olten sehen sich die Besucherinnen und Besucher, die leider weniger zahlreich sind als es die Ausstellung verdient, den Zeugnissen einer Kultur gegenüber, die schon viele Merkmale einer eigentlichen Hochkultur trägt, einschliesslich Spuren einer Zeichenschrift. Da gibt es Werkzeuge, Keramik und Schmuck von unglaublicher Präzision und Eleganz, wobei Waffen ganz fehlen. Dazu kommt die überwältigende Fülle sakraler Kunstgegenstände, deren symbolischen Gehalt wir nur erahnen können. Wie die Tempelmodelle nahelegen, standen im Zentrum des Kults eine Muttergöttin und ein stierköpfiger männlicher Begleiter, beide als Träger kosmischer Lebensenergien.

Wie bedeutend das weibliche Element als Ausdruck von Lebenskreativität war, bezeugen Hunderte von weiblichen Figuren in Form von Idolen, Gefässfiguren und Priesterinnen, deren Anzahl die männlichen Figuren bei weitem übertrifft.

Den künstlerischen Höhepunkt der Ausstellung bilden die zwei Kleinplastiken aus dunklem Ton, die zusammen aus einem Grab der Hamangia-Kultur von Cernavoda geborgen wurden (5000-4600 vor unserer Zeitrechnung). Die männliche Figur ist seit längerem unter dem Titel "der Denker" bekannt, weil sie an das berühmte Werk von Auguste Rodin zu erinnern scheint. Hingegen wurde die dazugehörige weibliche Figur kaum je gezeigt, und sie fehlt auch auf den Werbeplakaten und auf dem Deckblatt des Begleitbandes zur laufenden Ausstellung. Umso eindrücklicher sind die Originale in einer separaten Vitrine, wo der Mann und die Frau in gleicher Grösse und in derselben künstlerischen Vollendung und Ausstrahlung neben einander sitzen. Beide zeigen einen reflektierenden und meditativen Zug in Körperhaltung und Gesichtsausdruck.

Wen sie darstellen oder was für eine Gedankenwelt sie einst zum Ausdruck bringen sollten, werden wir nie mit Sicherheit wissen. Aus meiner Sicht sind Gesten und Mimik so stark typisiert bzw. idealisiert, dass wir kaum die Wiedergabe ganz bestimmter Individuen annehmen können. Die Bezeichnung "Der Denker und seine Ehefrau" (The thinker and his wife) auf einer zur Ausstellung erschienenen Kunstkarte ist schon deshalb unzulässig, weil uns die damalige Sozialordnung unbekannt ist, und wir das patriarchale Ehe-Arrangement nicht stillschweigend voraussetzen dürfen.

Umso erstaunlicher sind die Texte des erst kürzlich in deutscher Sprache erschienenen Begleitbandes aus der Feder rumänischer Forscher und Kulturpolitikerinnen. Dabei handelt es sich nicht um den erst Ende des Jahres erwarteten wissenschaftlichen Katalog zur Ausstellung, sondern um die Einführung in und das engagierte Plädoyer für das uralte Kulturerbe Rumäniens. Dazu gehören auch ungewöhnlich subjektive Äusserungen zu einer Reihe ganzseitig wiedergegebener Kunstwerke. Der Einzelabbildung des "Denkers" folgt eine lange enthusiastische Hommage von Mircea Goga, die vom Durchbruch des Menschen zum Metaphysischen spricht, womit dieser Mann aus Cernavoda der Menschheit den Adelsbrief verliehen habe und zum Stammvater aller Propheten und Philosophen geworden sei. Durch ihn sei Descartes’ Formel "Ich denke, also bin ich" vorweggenommen worden.

Zur gleich grossen Tafel mit der weiblichen Figur fehlt zunächst jeder Kommentar. Viel später, neben der Skulptur eines Pferdekopfes ist von der "Begleiterin" des Denkers die Rede. Yvette Fulicea, die Verfasserin des Artikels, meint, ihr Ausdruck deute auf Konkretes hin: "Überdenkt sie vielleicht die Arbeiten des nächsten Tages?" Damit wird uns suggeriert, dass nur der Mann Grosses denkt, während "seine" Frau sich den Kopf darüber zerbricht, was sie am nächsten Tag kochen soll.

Einzig Sandra Pralong protestiert in ihrem Beitrag neben der Bildtafel einer zoomorphen (tierköpfigen) Vase gegen die "Exklusivität des Ruhmes, die dem kleinen Mann aus schwarzem Ton zukommt, die in der Zurücksetzung seiner Begleiterin resultiert, deren Qualität in Ausführung und Originalität dem Denker in nichts nachsteht".

Dabei ist die Tendenz, Dinge zu verschweigen, die nicht mit den konventionellen patriarchalen Vorstellungen vereinbar sind, bereits in der Ausstellung selbst wahrnehmbar. Sie ist an den Hinweistafeln neben den Vitrinen abzulesen, die wortgetreu aus dem Rumänischen übersetzt wurden. So ist bei nahezu allen weiblichen Statuetten nur von "anthropomorphen", also von menschengestaltigen Figuren die Rede, obwohl ihre weiblichen Geschlechtsmerkmale, sowie häufig auch Zeichen von Schwangerschaft, unverkennbar sind. Auch die offensichtlich priesterliche Funktion der Figurinen in den Tempelmodellen wird nicht beim Namen genannt. Nur bei einer Szene, bei der sechs weibliche und sechs männliche Figuren einander gegenübersitzen, werden die Frauen auch als solche bezeichnet, obwohl sie sich in keiner Weise von andern weiblichen Figurinen unterscheiden.

Warum die Bedeutung des Weiblichen als selbständige kulturelle Grösse der menschlichen Frühkultur von den rumänischen Initianten der Ausstellung heruntergespielt wird, ist schwer nachvollziehbar. Liegt es an der lange vorherrschenden, patriarchalen Gesellschaftsstruktur auch unter kommunistischen Vorzeichen? Wie immer diese Frage zu beantworten ist, so scheint mir doch schwer verständlich, dass die Schweizer Gastgeber die sexistische Färbung der Kommentare unbesehen an die BesucherInnen weitergeben. Es wäre bedenklich, wenn dies mit dem in Westeuropa und in den USA spürbaren "backlash" seit den 1990er Jahren zu tun hätte. Dieser manifestiert sich als reaktionäre Gegenbewegung zur Gesellschaftskritik der 1970er und 1980er Jahre und deren Forderung nach Auflösung der alten Geschlechterklischees. Eine solche Rückwärtsbewegung ist ein ebenso irrationaler wie irritierender Vorgang, den ich nur als Folge einer patriarchalen Denkhemmung interpretieren kann.

Bildquelle: Manuela Wullschleger, Hg.: Neolithische Kunst in Rumänien, arte’m, 2008

Vortrag für Freidenker/innen -A-theistische Spiritualität

[17.11.2008]

A-theistische Spiritualität –Woran glauben Menschen, die nicht glauben?

Sehr geehrte Freundinnen und Freunde der Freidenkenden,
Der Titel meines Vortrags klingt etwas kompliziert, deshalb möchte ich ihn näher erläutern.
Zunächst den zweiten Teil, "Woran glauben Menschen, die nicht glauben?" Das ist eigentlich ein Zitat und stammt von einem kleinen Buch mit dem Dialog zwischen dem italienischen Schriftsteller Umberto Ecco und dem Mailänder Bischof Martini aus dem Jahr 1998, das den Titel trägt "Woran glaubt, wer nicht glaubt?". Darin vertritt der katholische Oberhirte die Auffassung, eine ethische Ordnung in der Gesellschaft sei nur durch einen religiösen Glauben, das heisst einen Glauben an Gott, aufrecht zu erhalten. Dagegen hält Ecco seine Überzeugung, ethische Gesinnung und ethisches Handeln seien unabhängig von irgendeinem metaphysischen Glauben und gibt dafür Beispiele aus dem antifaschistischen Widerstandskampf. Daraus ergibt sich dann die Frage: woraus schöpften die Atheisten unter diesen Kämpfern ihre Kraft und woran glaubten sie? Wie ist es möglich, humanitäre Werte selbst unter Opferung des eigenen Lebens zu vertreten, ohne die Hoffnung auf eine transzendente Macht?
Genau diese Frage versuche ich mit meinem Begriff der a-theistischen Spiritualität bzw. mit dem einer spirituellen Ethik zu beantworten. Wenn ich dabei das Wort a-theistisch mit Bindestrich schreibe, so ganz bewusst, um ihn gegen eine anti-religiöse Haltung abzugrenzen. Und in meinem Gebrauch des Wortes "Spiritualität", das heute allerdings ziemlich abgegriffen ist, verbirgt sich nichts Esoterisches, sondern die schlichte Erkenntnis, dass Ethik ohne ein spezifisch emotionales Engagement nicht lebbar ist.
Die Betonung des Emotionalen unterscheidet meinen Ansatz von dem meines Vorredners Michael Schmidt-Salomon, dessen Vortrag unter dem Titel stand: "Glaubst Du noch oder denkst Du schon?"
Ich stimme ihm inhaltlich zwar weitgehend zu, doch sehe ich Denken und Glauben nicht als schieren Gegensatz und möchte im Folgenden den Begriff des Glaubens in seiner Mehrdeutigkeit aufschlüsseln.
Zum einen kann Glaube das Für-Wahr-Halten von transzendenten, das heisst empirisch nicht erfahrbaren Inhalten bedeuten, was sich tatsächlich mit wissenschaftlichem Denken nicht vereinbaren lässt. Diese Form des Glaubens heisst im englischen Sprachgebrauch "belief", und nur der verpflichtet den Gläubigen zum Festhalten an bestimmten Glaubensinhalten. Das Englische kennt aber noch einen zweiten Glaubensbegriff, nämlich "faith", der im Deutschen mit "Vertrauen" wiederzugeben wäre, mit Vertrauen in die Redlichkeit der Mitmenschen, mit der Wahrnehmung der menschlichen und mitgeschöpflichen Würde und mit dem Glauben an die Kraft der liebenden Zuwendung. Dies alles sind Werte, die mit rein rationalem Denken gar nicht wahrnehmbar sind, und von denen doch das friedliche Zusammenleben der Menschen und die Erhaltung unserer Lebenswelt abhängen.
Ich werde im zweiten Teil meiner Ausführungen darauf eingehen, worin die genannten humanen Grundhaltungen wurzeln, wie sie entstehen und wodurch sie infrage gestellt werden. Zunächst folge ich dem Gedankengang von Schmidt-Salomon bzw. von Richard Dawkins, auf den er sich stützt.
Es ist mir erst kürzlich klar geworden, wie stark die Schweiz seit einiger Zeit von engstirnigen evangelikalen Vorstellungen unterwandert wird, und zwar nicht nur in biblischen Zirkeln, sondern bis hinein in unsere offiziellen Schulbücher. Beispiel dafür ist das zwar revidierte, aber immer noch umstrittene Berner Schulbuch "NaturWert". Darin sollte der Anspruch der so genannten Kreationisten legitimiert werden, der wissenschaftlichen Evolutionslehre den wörtlich genommenen biblischen Schöpfungsbericht als gleichberechtigte Wahrheit zur Seite zu stellen. Begründet wird dieser Anspruch damit, dass auch eine wissenschaftliche Theorie nichts anderes als Ideologie, sprich, ein Glaube sei. Und deshalb sollen sich 13-15 jährige Kinder frei entscheiden können, ob sie den Schöpfungsbericht oder die Evolutionslehre für plausibler halten.
Zu Recht protestierte dagegen eine Lehrerschaft, die sich der Aufklärung und den erwiesenen Tatsachen der Wissenschaft verpflichtet fühlt. Und von hier aus wird zumindest verständlich, dass Dawkins und seine Mitstreiter/innen einen dezidiert anti-religiösen Standpunkt vertreten.
Gegenwärtig findet ja in der Diskussion um die Evolutionstheorie eine Art Schattenboxen statt: Die Anhänger der Schöpfungstheorie beanstanden Dinge, die dem heutigen Stand der Evolutionsforschung gar nicht entsprechen. So ist in der Biologie ein rein mechanistisch-physikalisches Weltbild längst überholt, und Evolutionstheoretiker/innen erklären unsere Lebens-welt niemals als das Ergebnis blosser Zufälle. Auch die Metaphern vom "Kampf ums Dasein" oder vom "egoistischen Gen" sind nur als populäre Hilfsvorstellungen zu betrachten. Beide haben sich relativiert durch neue Bilder vom komplexen Zusammenwirken der verschiedenen Akteure im Evolutionsprozess.
Was bleibt, ist die hundertfach empirisch belegte Tatsache, dass sich alle Arten dieser Erde auseinander entwickelt haben, sowie die offensichtliche Beobachtung, dass es einen fliessenden Übergang zwischen fälschlich so genannt "toter" Materie und pflanzlichem Leben und weiter zu tierischem und menschlichem Leben gibt. Hingegen sind die philosophischen Fragen, warum es "überhaupt etwas gibt und nicht nichts", und die Frage nach dem Wohin und Wozu, also alle so genannt "Letzten Fragen" von der Naturwissenschaft prinzipiell nicht beantwortbar. In dieser Hinsicht sind alle NaturwissenschaftlerInnen Agnostiker.
Auf der anderen Seite ist es unredlich, wenn dogmatisch Gottgläubige meinen, in die noch vorhandenen oder prinzipiellen Defizite der Wissenschaft ihren Gottesbegriff einschmuggeln zu können, gewissermassen wie den "Deus ex machina" im Theater, der auf die Szene herabsinkt, wenn der Fortgang des Dramas ausweglos erscheint.
Einen solch scheinbaren Ausweg suchten schon die so genannten "Deisten" des 18. Jahrhunderts, die nur noch von einem ersten Beweger sprachen, welcher den kosmischen Prozess ins Rollen bringt, dabei aber auf einen persönlich gedachten Weltenlenker verzichteten. Dawkins hat Recht, wenn er diese sehr künstliche Hypothese zwar für nicht widerlegbar, aber in höchstem Masse für unwahrscheinlich hält.
Im übrigen haben die europäischen Theologen, auch die katholischen, längst erkannt, dass es sich beim biblischen Schöpfungsbericht um einen Mythos handelt, um einen Weltentstehungsmythos neben vielen anderen, die erdacht wurden, bevor die Menschheit zur wissenschaftlichen Erforschung des Kosmos imstande war. Freilich ziehen die meisten Theologen daraus nicht die nötigen Konsequenzen und sprechen immer noch davon, dass Schöpfungslehre und Evolutionstheorie miteinander vereinbar seien.
Spätestens seit Kant mussten wir uns von den Gottesbeweisen des Mittelalters endgültig verabschieden, weil es prinzipiell unmöglich ist, aus der sichtbaren Welt auf die Existenz unsichtbarer metaphysischer Wesen zu schliessen.

Damit war und ist allerdings das Phänomen religiöser Überzeugungen längst nicht abgehakt. Dawkins verkennt bzw. er sieht nicht, dass die Welterklärung via göttlicher Mächte nur die eine Seite des religiösen Problems darstellt. Alle Religionen, insbesondere die Offenbarungsreligionen waren ja immer auch ein Heilsversprechen für die Menschen. Von jeher war Religion der Trost für die unabwendbaren Leiden des menschlichen Lebens, wie Naturkatastrophen, Krankheit und Tod, und sie versprach den Unterdrückten und Gedemütigten den gerechten Ausgleich in einer jenseitigen Welt.
Selbst Kant, der die Ethik von jeder religiösen Gewissheit losgelöst hat, konnte sich von diesem Heilsversprechen nicht ganz emanzipieren. Für ihn blieben Gott und Unsterblichkeit ein "Postulat der praktischen Vernunft" also die moralische Forderung nach letztendlicher Gerechtigkeit.
Deshalb muss ich vor der Illusion warnen, dass mit dem logisch wissenschaftlichen Denken der Spuk der Religion ein für alle Male zu verscheuchen sei oder dass es genüge, sie lächerlich zu machen, damit sie sich in Luft auflöst. Solange wir die schlimmste Armut und das Leiden von Millionen von Menschen nicht lindern können oder wollen, werden sich die religiösen Hoffnungen der Menschen nicht abschaffen lassen.
Erst der moderne Humanismus seit der Renaissance forderte gerechtere Verhältnisse schon für diese Welt, gefolgt von den sozialen Bewegungen des 19.und 20. Jahrhunderts. Allerdings erleben wir gegenwärtig auf die desillusionierendste Weise, wie wenig der globalisierte Neokapitalismus mit unseren humanistischen Vorstellungen in Einklang zu bringen ist. Die Frage: "Glaubst Du noch oder denkst Du schon?" müssen wir heute nicht nur im Blick auf theologische Dogmen stellen, sondern ebenso den Vertretern der Marktreligion, die das westliche Denken seit Jahrzehnten beherrscht.
Sie nährt ja die trügerische Hoffnung, dass der ökonomische Egoismus des Einzelnen den wirtschaftlichen Fortschritt garantiert und damit im Endeffekt den Wohlstand der ganzen Menschheit. Der faktische Zustand der Welt hat dies längst ad absurdum geführt, aber die wenigsten von uns sind sich bewusst, wie eng, geistesgeschichtlich gesehen, die liberalistische Markttheorie mit religiösen Vorstellungen verknüpft war und in Amerika immer noch ist. Der bedeutende Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger erbrachte den Nachweis, dass die berühmte "unsichtbare Hand des Marktes", ursprünglich die unsichtbare Hand der göttlichen Vernunft meinte. Adam Smith als der Begründer der liberalen Markttheorie hatte sich dieses Prinzip von der stoischen Philosophie der Antike geborgt, wonach die menschliche Habgier keinen Schaden anrichte, sondern sogar nützlich sei, weil sie von der göttlichen Hand zum Wohle aller umgelenkt würde. Diese fromme Lüge erklärt wenigstens zum Teil das Bündnis zwischen Religion und Kapitalismus. Ein zweiter historischer Zusammenhang ergibt sich aus der amerikanischen Variante des Calvinismus, wonach der wirtschaftliche Erfolg einen Gnadenbeweis Gottes darstellt.
Wenn wir heute vor dem Zusammenbruch des aufgeblähten Finanzsektors stehen, so zeigt sich, unabhängig von ideologischen Hintergründen, dessen wahnhafte Komponente: nämlich der Glaube an die wunderbare Geldvermehrung ohne reale Deckung. Hier haben wir einen eigentlichen Realitätsverlust vor uns, wie er vorher schon mit der Vorstellung von der Unerschöpflichkeit der natürlichen Ressourcen gegeben war.
Ich will aber auch daran erinnern, dass es schon seit Jahrzehnten Gegenbewegungen zur herrschenden Wirtschaftsdoktrin gibt. Unter vielen anderen Gruppen- wie attac und hunderte von NGO’s – ist die Befreiungstheologie zu nennen, die, besonders in Südamerika, mit der christlichen Forderung nach Gerechtigkeit ernst macht und das richtige Handeln über die richtige Lehre stellt. (Die Orthopraxie über die Orthodoxie). Was prompt dazu führte, dass man sie - auch und gerade von Seiten des Vatikan - der kommunistischen Umtriebe verdächtigt.
So stehen wir heute vor der Aufgabe, die Idee der Aufklärung auf ganz verschiedenen Ebenen voranzutreiben und damit jeder Form von Fundamentalismus zu begegnen. Wobei die eigentliche Schwierigkeit darin besteht, dass sich die Fundamentalismen verschiedenster Herkunft gegenseitig aufschaukeln:
Fundamentalistischer Kapitalismus versus totalitärer Staatssozialismus, extreme westliche Libertinage versus Traditionalismus, missionarischer Wahrheitsanspruch von christlichen Evangelikalen gegen Islamisten oder radikale Hinduisten und umgekehrt. Die "Achse des Bösen" hat immer zwei Pole.
Als aufgeklärte Freidenkende sind wir natürlich für Toleranz. Aber was heisst das? Meinen wir "anything goes" oder gegenseitigen Respekt? Die geistige Verfassung unserer pluralistischen Gesellschaft ist widersprüchlich. Auf der einen Seite findet sich die postmoderne Gleich-Gültigkeit aller Werturteile: Wissenschaft, Theologie, Esoterik - alles gleichberechtigt; moralische Vorstellungen - alles relativ, keine Grenzen für grausame oder entwürdigende Bilder in den Medien.
Auf der anderen Seite begegnen wir der Forderung nach besonderem Respekt gegenüber religiösem Empfinden, der Bevorzugung von Theologen in staatlichen Ethikkommissionen und der stillschweigenden Voraussetzung einer christlichen "Leitkultur", in der das Bekenntnis zum A-theismus keinen öffentlichen Raum hat.
Das ist umso unverständlicher, als nicht nur historisch gesehen Religionskonflikte zu den mörderischsten Kriegen geführt haben, sondern auch im heutigen Weltgeschehen die Religionen zur Fanatisierung der Massen missbraucht werden.
Von daher hätte Europa mit seinen schmerzlichen Erfahrungen der Kreuzzüge, des 30-jährigen Krieges und der Judenverfolgung eine besondere kulturpolitische Verantwortung. Dies beschreibt Gret Haller in ihrem Buch "Politik der Götter" im Sinne einer profunden staatsrechtlichen Analyse. Im Unterschied zu Amerika habe Europa nach 1648 das Prinzip des weltlichen Staates grundsätzlich von jedem religiösen Bekenntnis gelöst. Das heisst, der Staatsbürger besitzt seine vollen Rechte und Pflichten unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit. Wörtlich heisst es bei ihr:
"Wenn es einen Felsen gibt, auf dem das heutige Europa gebaut ist, dann ist es die Überwindung jeglicher moralisch-religiösen Auserwähltheitsvorstellung der Nationen".
Von daher klingt der in den vergangenen Monaten ständig wiederholte Slogan im amerikanischen Wahlkampf, "God bless America" ebenso anachronistisch wie fragwürdig, weil darin seit jeher eine Auserwähltheitsvorstellung mitschwingt.
Auch ist bei der Entwicklung zum konsequent laizistischen Staat nicht zu vergessen, wie lange Frauen aus dem demokratischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen blieben. Und dies hat zu einem nicht geringen Teil religiöse Gründe: Alle so genannten Hochreligionen basieren auf patriarchalen Grundvorstellungen: auf Gott als dem Herrn, der sich auf Erden durch männliche Priester, männliche Herrscher und Familienoberhäupter vertreten lässt. Dagegen haftete und haftet den Frauen zum Teil bis heute das Odium der moralischen Schwachheit, wenn nicht des Bösen an.
In jede Form von Fundamentalismus ist eine mehr oder weniger offene Frauenfeindlichkeit eingeschrieben, auch dem uralten Symbol vom Drachentöter. Der damit symbolisierte Sieg des Guten über das angebliche Böse enthält auch die Komponenten der männlichen Überlegenheit und die Kontrolle der männlichen Ratio über die weibliche Lebenskraft und Sinnlichkeit. In den ältesten Bildern vom Sieg über den Drachen ist dieser ein weibliches Wesen. Und die jüngsten Untersuchungen des Religionssoziologen Martin Riesebrodt ergaben als gemeinsamen Nenner aller fundamentalistischen Strömungen einen latenten Frauenhass. Deshalb ist es kein Zufall, dass in den islamischen Ländern die intellektuellen Frauen am energischsten für die Trennung von Religion und Staat eintreten.
Wenn ich von meiner eigenen geistigen Entwicklung ausgehe, so verabschiedete ich mich von meiner religiösen Erziehung sowohl aus wissenschaftlich-philosophischen Gründen als auch aus moralischen Erwägungen. Den moralischen Schock erlebte ich als junge Frau während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich erinnere mich an einen Russland-Heimkehrer, der aus seinen schrecklichen Erfahrungen den Schluss zog: "Es gibt keinen Gott, und wenn es einen gibt, so ist er ein Schuft."
Einige Jahre später stellte Dorothee Sölle die Frage: "Gibt es einen Gottesglauben nach Auschwitz?" Freilich ist die Frage nach der Rechtfertigung Gottes, das sog. Theodizeeproblem, sehr viel älter. Schon Hiob in der Hebräischen Bibel erhielt keine Erklärung für seine unverschuldeten Leiden.
Der schlimmste Ausweg aus diesem Dilemma bestand in der Erfindung des Teufels, auf den man alles Böse projizieren und damit Gott entlasten konnte. Um dann gegen die angeblichen Gefolgsleute des Satans erbittert zu kämpfen.
Für mich persönlich waren es solche moralischen Bedenken, die mich von der Idee eines persönlichen Gottes Abschied nehmen liessen, insbesondere von einer Gottesidee, die einen Teufel nötig hat.
Aber im Blick auf den Holocaust wurde mir auch bewusst, dass es darauf ankommt, von welcher Lebenslage aus man diesen entsetzlichen Geschehnissen begegnet. Ein so brillanter Denker wie Hans Jonas, der als Jude persönlich betroffen war, hielt trotz allem an seinem jüdischen Glauben fest, wenn auch auf äusserst demütige Weise. Es war unter anderen diese Erfahrung, die mich dazu führte, die Glaubensüberzeugungen anderer zu respektieren.
Dennoch müssen wir uns als Freidenkende Rechenschaft ablegen über die Grenzen von religiöser Toleranz. Jedenfalls kann "Religionsfreiheit" nicht nur das Recht auf die freie Ausübung der jeweiligen Religion heissen, sondern auch Freiheit von der Religion, also das Recht auf den agnostischen bzw. a-theistischen Standpunkt.
In diesem Zusammenhang ist die Meinungsumfrage unter Religionswissenschaftlern interessant, die der Kulturjournalist der NZZ (Uwe Justus Wenzel) unter dem Titel "Was ist eine gute Religion?" 2007 herausgab. Ich finde den Titel zwar nicht unvoreingenommen genug, doch wirken die ganz verschiedenen Antworten der 20 angefragten AutorInnen ehrlich und authentisch. Einig scheinen sich alle in dem Punkt zu sein, dass es zwar eine Ethik ohne Religion gibt, aber keine gute Religion ohne universelle Menschlichkeit. Dabei fehlt mir allerdings bei manchen die klare Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Kirche und Staat sowie die Ablehnung jeder aktiven missionarischen Tätigkeit.
Dagegen spricht sich der deutsche Philosoph Christoph Türcke unmissverständlich aus: Die bestehenden Religionen seien "allesamt nicht gut. Denn keine von ihnen ist zu Macht und zu Einfluss gekommen, ohne einzuschüchtern, zu demütigen, zu verfolgen, ja zu morden..." Weiter heisst es bei ihm:
"Die meisten Menschen hängen ihrer Religion nicht an, weil sie sie gut finden, sondern sie finden sie gut, weil sie ihr anhängen." Türcke hält zwar die Gottesbedürftigkeit für ein menschliches Grundbedürfnis, das wir uns bewusst machen müssen, aber eines, das wir als Erwachsene überwinden sollten. "Freilich", fügt er bescheiden an, "auch im Wissen, dass niemand hundertprozentig erwachsen wird."

Die Überlegung zum Erwachsen-Werden gibt mir das Stichwort für den zweiten Teil meiner Ausführungen.
Ich gehe von der Verletzlichkeit des Menschseins aus und davon, dass sich alle Menschen in Abhängigkeit voneinander befinden.
Wir alle bedürfen der Zuwendung, der Anerkennung und Unterstützung, das heisst, jedes Individuum braucht die emotionale Verbundenheit mit anderen und mit der Gemeinschaft als den wärmenden Boden für seine persönliche Entwicklung. Als Kinder sind wir mehrheitlich Empfangende, als Erwachsene Gebende und Nehmende. Die moralische Verantwortung für die Gemeinschaft wird in der Primärgruppe erworben und von da aus auf immer grössere Gruppen ausgedehnt. Mit anderen Worten, Verbindlichkeiten wachsen auf dem Untergrund von Verbundenheit. Wer emotionale Geborgenheit nie erfahren hat, läuft Gefahr, zum Soziopathen zu werden: zum neurotischen oder asozialen Einzelgänger, oder zum Mitglied der nächst besten Gruppe, die ihm Zugehörigkeit und Halt verspricht, auch um den Preis extremistischer Machenschaften.
Aus meiner kulturhistorischen- oder vielleicht besser - aus meiner kultur-psychologischen - Sicht haben Ethik und Religion ursprünglich ein und dieselbe Wurzel. Die frühen Menschen waren ja nicht nur abhängig von ihrer Sippengemeinschaft, sondern ebenso von der sie umgebenden Natur. Sie erlebten deren kreative und zerstörerische Kräfte als göttlich-dämonische Mächte, an die sie sich ausgeliefert fühlten. Auf die so genannten Naturvölker bezogen, hat der Religionsphilosoph Friedrich Schleiermacher sicher recht, wenn er das religiöse Gefühl als das "Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit" bezeichnet. In den frühen polytheistischen Religionen dienen rituelle Beschwörung und Opferhandlungen dazu, die numinosen Mächte gnädig zu stimmen. Das ändert sich mit der Ausbildung mono-theistischer Religionen nicht grundsätzlich; die Abhängigkeit von einer einzigen göttlichen Grossmacht verstärkt sogar noch das Gefühl der eigenen Nichtigkeit. Erst im Laufe einer fortgeschrittenen Individualisierung kommt es zu einem persönlichen Verhältnis zwischen Gott und Mensch und damit auch zur persönlichen Gewissensbildung.
Neben diesem Privatisierungsprozess kennen alle Hochreligionen auch eine ganz andere religiöse Strömung, nämlich die der Mystik, in der sich der Einzelne mit dem ganzen Kosmos verbunden fühlt und das personale Gottesbild mit der Natur und allem Lebendigen verschmilzt. In der taoistischen und indischen Mystik tritt das personal-Göttliche weitgehend zurück, und auch bei Meister Eckhardt und bei Spinoza begegnen wir einem Einheitsgefühl, das jede rational fassbare Theologie hinter sich lässt.
Beide relativ späten religiösen Ausprägungen haben neben positiven Zügen auch tendenzielle Schwächen. In der privaten Gottesbeziehung kann die eigene moralische Vervollkommnung so stark in den Vordergrund treten, dass dies auf Kosten der Verantwortung für die ganze Gemeinschaft geht. Und MystikerInnen stehen in der Gefahr, aufgrund ihrer starken Einheits- und Innenschau das politische Engagement zu verlieren. Das letztere trifft allerdings nicht auf Persönlichkeiten wie Dorothee Sölle zu, die ja ganz ausdrücklich ihre mystische Schau mit dem politischen Widerstand verbunden hat.
Positiv an beiden religiösen Haltungen ist ihr Verzicht auf einen ausschliesslichen Wahrheitsanspruch und ihre Unabhängigkeit von jeder kirchlichen Autorität. Das gilt auch für die so genannt esoterischen Strömungen, die in den westlichen Industrienationen seit längerem dem religiösen Bedürfnis entgegen kommen, wobei es alle Varianten mystischer Sinnsuche bis hin zu höchst egozentrischen magischen Praktiken gibt. Dies mag in den Zusammenhang der viel zitierten "Rückkehr der Religionen" gehören, doch geben sie weniger zur Beunruhigung Anlass als die aggressiven fundamentalistischen Glaubensbewegungen.
Die letzteren sollten uns ernsthaft beschäftigen, indem wir die Frage nach ihren individualpsychologischen und kollektiven Ursachen stellen. Das heisst: Worauf lässt sich die Abkehr von der Aufklärung und der Rückzug in den Schoss religiöser Vereinigungen zurückführen?
Ich kann hier nicht auf die sehr komplexen kulturellen und politischen Ursachen eintreten, die in den islamischen Ländern zur Wiederbelebung alter Traditionen bis hin zum islamistischen Terror geführt haben.
Im Blick auf die westlichen und andere hoch technisierten Länder gibt es für die Rückkehr der Religionen zwei oft genannte Gründe. Erstens die zunehmende Individualisierung, die den Verlust von emotionaler Verbundenheit und verlässlicher Verbindlichkeit zur Folge hat. Oft führt die selbst gewählte Isolierung des Single-Daseins zu Einsamkeit und Selbstüberforderung, die für irrationale Kompensationen empfänglich macht.
Zweitens erleben viele Menschen einen Sinnverlust bei beruflichen Tätigkeiten, die nur noch ökonomischen Zwecken dienen und bei denen der Arbeit als solcher kein Eigenwert zukommt. Letztlich hat der "homo oeconomicus" nur noch Geld in Händen, und dafür kann er sich gerade das nicht kaufen, was er als Mensch am nötigsten hätte.
Beide Arten von psychischen Defiziten nützen kirchliche Kreise propagandistisch für den Zugewinn neuer Schäfchen aus. So wiederholen sie pausenlos ihre Klagen über den allgemeinen Materialismus und den Sinnverlust, ohne auf die wirtschaftlichen Systemzwänge und die damit verbundene Selbstentfremdung der Menschen einzutreten. Auch die relativ jungen Sozialenzykliken der Päpste können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Vatikan den unbedingten Wert der Menschenwürde erst spät entdeckte. Er hatte im Gegenteil einst seinen ganzen Machtapparat in Bewegung gesetzt, um die erste Menschenrechtsbewegung der Spätrenaissance zu verhindern. Als der italienische Philosoph Pico della Mirandola 1496 als erster den Begriff "Menschenwürde" aussprach, meinte er damit die Unantastbarkeit der menschlichen Gewissensfreiheit und die Achtung vor jedem Menschen, gleich welcher Religion oder kultureller Prägung. Damit sollte den Herrschenden die Bevormundung und Verfügbarkeit über die menschliche Person entzogen werden, was dem Machtanspruch der Kirche diametral zuwider lief. Deshalb verbot der Vatikan die Schriften Mirandolas und verhinderte mit Erfolg einen geplanten europäischen Kongress der damaligen Humanisten zum Thema Menschenwürde.
Für die konservativen Kirchen leitet sich bis heute die Menschenwürde ausschliesslich aus dem Glauben an die Gotteskindschaft ab. Erst kürzlich kam mir ein erschreckendes Zitat aus einem Text des früheren Papstes Johannes Paul II. in die Hände. Darin heisst es wörtlich: "So zu leben, als ob Gott nicht existiere, bedeutet, ausserhalb der Koordinaten von Gut und Böse zu leben." Und noch befremdlicher: Jedes Denken, das den Menschen auf sich selbst stellt, sei eine "Lästerung gegen den Heiligen Geist und damit eine Sünde, die nicht vergeben werden kann."(Reemtsma in der wissenschaftlichen Zeitschrift "Recherche" vom Juni/Juli 2008). Dies ist nur als klare Absage an eine aufgeklärte Gesellschaft zu lesen bzw. als Unvereinbarkeit zwischen katholischem Selbstverständnis und Demokratie.
Allerdings ist auch die humanistische Begründung der Menschenwürde mit der Schwierigkeit verbunden, dass sie rein rational nicht zu definieren ist. Sie ist nur emotional erfahrbar, und auch das nicht in einem unmittelbar positiven Sinn, sondern erst im Fall ihrer Verletzung. Wir wissen, was es heisst, missachtet oder gedemütigt zu werden, und dies nicht nur, wenn es uns selbst, sondern auch, wenn es andere betrifft. Eine solche Verletzung nicht zuzulassen, empfinden wir als moralische Pflicht.
Doch sind moralische Werte keine Fixsterne, die gewissermassen aus sich selbst ihre Gültigkeit behalten, vielmehr müssen sie immer neu von der moralischen Gemeinschaft gestiftet werden. Dazu gehören Einsicht, gegenseitiges Vertrauen und Mitgefühl, wie sie in der gelebten Gemeinschaft wachsen. Und es gehört dazu die Reflexion über bestehende Regeln und ihre Anpassung an neue Gegebenheiten, die nur im herrschaftsfreien Diskurs (J. Habermas) zu erarbeiten sind. Deshalb gibt es streng genommen überhaupt keine Ethikexperten, weder theologische noch philosophische, lediglich Fachpersonen aus den Human- und Sozialwissenschaften, die einen Überblick über die Geistesgeschichte und deren moralische Erfahrungen geben können. Sie ersetzen weder die öffentliche Diskussion noch die moralische Entscheidung jedes Einzelnen in der Zivilgesellschaft.

Lassen Sie mich zuletzt noch einmal auf meine These zurückkommen, dass sich Ethik und Religion insofern berühren, als sie beide von der emotionalen Erfahrung der Verbundenheit ausgehen. Was ich als den spirituellen Kern der Ethik bezeichne, drückt sich auch in unseren sprachlichen Wendungen aus. So benutzen wir das Wort "heilig" nicht nur im Zusammenhang mit dem Gottesbegriff oder mit den von der Kirche sanktionierten heiligen Personen. Wenn wir von einem Menschen sagen, dass ihm nichts heilig sei, so bedeutet das kein Urteil über seine religiöse Einstellung, vielmehr über seinen Mangel an moralischem Bewusstsein. In einem ethischen Sinn hat Albert Schweitzer von der Ehrfurcht vor dem Leben gesprochen, und dies abgelöst vom theologischen Begriff der Ehrfurcht gegenüber einer transzendenten Macht.
Ich meine, dass es sich lohnen würde, über die "Ent-Theologisierung" auch anderer scheinbar rein religiöser Begriffe nachzudenken. Etwa über den Begriff der Gnade im Unterschied zu dem, was uns als persönlicher Verdienst zukommt. In den menschlichen Beziehungen der Zuneigung, der Freundschaft und erst recht in der Liebe, gibt es kein Recht auf Gegenseitigkeit. Hingabe bleibt immer ein Wagnis, und ihre Erwiderung ein Geschenk, das weder erwartet, noch erzwungen werden kann.
Auch ist es schwierig, die wesentlichsten Erfahrungen unseres Lebens in die richtigen Worte zu fassen, was sie in gewisser Weise mit mystischen Erfahrungen verwandt macht. Das gilt nicht nur für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch für unsere wortlose Kommunikation mit Tieren, ja mit allem Lebendigen. Das ist auch die Erklärung dafür, dass sich die Dichtung und alle anderen Künste seit jeher der symbolischen Ausdrucksweise bedienen. Psychische Erfahrungen können wir nicht direkt mitteilen, nur mit Hilfe von Metaphern umschreiben.
Weil der Mensch ein "Symbole bildendes Tier" ist (E. Cassirer), bleibt er im Umgang mit anderen Menschen und mit dem eigenen Leben an ein Minimum von Ritualen gebunden. Deshalb begrüsse ich es ganz besonders, dass sich die Freidenker-Vereinigung mit der Praxis weltlicher Rituale für einschneidende Lebensabschnitte befasst. Sie gehören ebenso zur "a-theistischen Spiritualität" wie die Kunst, Feste zu feiern, die diesen Namen verdienen.
Bei aller Verschiedenheit der kulturellen Symbole in der gesamten Welt kann die Symbolsprache eine Vermittlerin für das gegenseitige Verständnis sein. Das wurde mir auch im "Haus der Religionen" in Bern deutlich, das für den geistigen Frieden arbeitet und nicht nur allen Konfessionen, sondern auch AgnostikerInnen offen steht.
In mehrfacher Hinsicht scheint mir beim gegenwärtigen Zustand der Welt ein Kampf zwischen so genannt Gläubigen und so genannt Ungläubigen kontraproduktiv zu sein. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten, die zahlreichen, aber unterschiedlichen Gruppen von Menschen, die sich für mehr Frieden und Gerechtigkeit engagieren, auseinander zu dividieren. Voraussetzung bleibt freilich der Verzicht auf jede Form von Missionierung und der gegenseitige Respekt auf Augenhöhe. Für mich stellt sich deshalb die Gretchenfrage nicht mehr mit den Worten: "Glaubst Du an Gott?", sondern: "Glaubst Du an die Menschlichkeit?", das heisst an das menschliche Vermögen des Mitgefühls und der Verantwortung für die Beseitigung selbstverschuldeter Leiden.
Unabhängig davon, ob wir uns zu den Gläubigen oder Ungläubigen zählen, halte ich das 10. Gebot für beherzigenswert, wie es im Manifest des evolutionären Humanismus formuliert wird. Deshalb will ich es hier noch einmal zitieren:
"Stelle Dein Leben in den Dienst einer grösseren Sache, werde Teil in der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen wollen." Eine solche Haltung ist nicht nur vernünftig, sondern auch das beste Rezept für eine sinnerfüllte Existenz. "Wenn Du Dich selbst als Kraft im Wärmestrom der menschlichen Geschichte verorten kannst, wird Dich das glücklicher machen als es jeder erdenkliche Besitz könnte. Du wirst intuitiv spüren, dass Du nicht umsonst lebst und auch nicht umsonst gelebt haben wirst!"
Dem ist nichts hinzuzufügen, aber ich muss gestehen, dass ich bei meinem Zitat einen Satz weggelassen habe. Bei Schmidt-Salomon steht nämlich noch folgendes:
"Es scheint so, dass Altruisten die clevereren Egoisten sind, da die grösste Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt."
Diese Anlehnung an die Soziobiologie ist für mich nicht schlüssig. Wenn unsere ethische Motivation darin besteht, die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort zu machen, so geht das bereits prinzipiell über das Streben nach individuellem Nutzen hinaus. Wenn wir nur deshalb Altruisten wären, um uns selbst besser zu fühlen, dann ginge die Rechnung mit Sicherheit nicht auf. Der Einsatz für das gute Leben aller beruht ja nicht nur auf der Erfahrung des Mit-Leidens, sondern sieht sich nur allzu oft mit der Vergeblichkeit der eigenen Bemühungen konfrontiert. Dennoch bei der Sache für das Gute zu bleiben, setzt voraus, dass wir das eigene Nützlichkeitskalkül transzendieren und die Nächsten nicht bloss wegen uns selbst, sondern um ihrer selbst willen lieben.
Schliesslich kann ich, was unser Erwachsensein betrifft, auch einer unkritischen Verherrlichung der Natur nicht zustimmen. Wir können und sollen uns zwar als Teil der Natur fühlen und den Tod als Teil des Lebens akzeptieren, doch das löst die eigentlich tragischen Aspekte der Natur nicht auf. Für den frühzeitigen Tod geliebter Kinder oder die unschuldigen Opfer von Naturkatastrophen gibt es für Agnostiker/innen keinen Trost, ausser das Mit-Fühlen und Mit-Tragen der Trauer durch nahe stehende Menschen. Dies ist der herbe, aber nicht aufhebbare Preis der Aufklärung.

Literatur
- Dawkins, Richard: Der Gotteswahn, Ullstein Verlag Berlin, 2007
- Haller, Gret: Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus, Aufbau-Verlag Berlin 2005
- Liessmann, Konrad Paul(Herausgeber): Die Gretchenfrage. Philosophicum Lech, Bd.11, Zsolnay Wien 2008
- Martini, Carlo Maria/Umberto Ecco: Woran glaubt, wer nicht glaubt?, Zsolnay Wien 1998
- Meier-Seethaler, Carola: Jenseits von Gott und Göttin. Plädoyer für eine spirituelle Ethik, C. H. Beck, München 2001
- Dieselbe: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. C. H. Beck, München 1997/2001
- Dieselbe: Das Gute und das Böse. Mythologische Hintergründe des Fundamentalismus in Ost und West, Stuttgart 2004. Internet-Verlag www.opus-magnum.de
- Reemtsma, Jan Philipp: Muss man Religiosität respektieren? in: Recherche, Zeitschrift für Wissenschaft, Nr.1 2008
- Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen", C. H. Beck, München 2000
- Schmidt-Salomon, Michael: Manifest des evolutionären Humanismus, Alibri Verlag Aschaffenburg, 2006
- Wenzel, Uwe Justus (Herausgeber): Was ist eine gute Religion?, C. H. Beck München 2007

Klartext zur Finanzkrise

[23.10.2008]

Überraschend? Nicht vorhersehbar? Mitnichten. Der Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems mit seinen irrationalen Derivat-Konstrukten war nichts als logisch und wurde bereits vor 13 Jahren exakt prognostiziert. 1994 zitierte der Wirtschaftsjournalist Günter Ogger ("Das Kartell der Kassierer") den ehemaligen Präsidenten der New Yorker Notenbank mit den Worten:
"Der Ausfall einer einzigen Bank könnte zu einem katastrophalen Dominoeffekt führen, der das ganze Bankensystem bedroht".
Genau das ist jetzt eingetreten. Dennoch verfügt der Mainstream der Sachverständigen weder über die Kompetenz noch über den Mut, die Kernprobleme dieses Zusammenbruchs zu diagnostizieren.
Man hält sich lieber an oberflächliche Symptome wie falsche Anreize durch Manager-Boni, statt die Basis unseres Wirtschaftssystems ins Visier zu nehmen. Dessen Grundlage ist der so genannte "Washington Consensus", der von den Wirtschaftstheoretikern der Chicagoer Schule formuliert wurde. Auf eine kurze Formel gebracht bedeutet er: Privatisierung und nochmals Privatisierung. Angeblich generiert der freie Markt sämtliche wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften, solange er sich selbst überlassen bleibt und der Staat nicht eingreift.

Nun hat die unglaubliche Verschuldung der Grossbanken und die gegenwärtige Rettungsaktion mit öffentlichen Geldern in Schwindel erregender Höhe diesen "Consensus" ad absurdum geführt. Deshalb ist es mit Reförmchen nicht getan, es braucht einen eigentlichen Paradigmenwechsel. Heute stehen wir an einem Punkt, der das Versagen der blinden Marktreligion auf mehreren Ebenen offensichtlich macht:

- Die sich anbahnende Klimakatastrophe deckt die Ignoranz der Markteliten gegenüber den physikalischen und biologischen Naturzusammenhängen auf.
- Die weltweit wachsende Schere zwischen Arm und Reich straft die Wohlfahrtsutopie des Neoliberalismus Lügen.
- Die angebliche Demokratisierung und Befriedung der Welt durch den grenzenlosen freien Markt erweist sich als Heuchelei. Nicht nur ist der Wirtschaftskrieg, den Weltbank und Internationaler Währungsfonds mit ihrem Diktat der "Strukturanpassungen" führen, katastrophal für die Dritte Welt, beide Kriegsarten sind miteinander im Bunde. Sowohl der Waffenhandel der Industriestaaten als auch die offenen Kriege der U.S.A. stehen im Dienst des imperialen Wirtschaftskrieges.

Schon 1987 – vor mehr als 20 Jahren – schilderte Susan George, die stellvertretende Direktorin des Transnational Instituts in Amsterdam, die Pervertierung von Weltbank und IWF zu Instrumenten der amerikanischen Weltmachtspolitik. Die angebliche Entwicklungshilfe führte zur gezielten Abhängigkeit der Entwicklungsländer durch Verschuldung mit folgendem Resultat: "Sie sterben an unserem Geld" (So der Titel ihres Buches, erschienen bei rororo 1988).
Nun erschien vor kurzem in englischer Sprache der in Romanform geschriebene Bericht "Implosion" des Schweizers Peter König, der jahrelang für die Weltbank gearbeitet hat. Er bestätigt in allen Punkten die Demaskierung von IWF und Weltbank durch Susan George. (Sendung "Kontext" von DRS 2, 20.10.08,9.05 Uhr)

Die ewig Gestrigen schwören aber immer noch auf die Formel: There is no alternative. Dabei haben die besten Wirtschaftstheoretiker/innen längst grundlegende Reformen vorgeschlagen. Unter vielen anderen gehören dazu die Namen James Tobin, Joseph Stiglitz, die Nobelpreisträger Amartya Sen und Paul Krugman sowie die Schweizer Hans-Christoph Binswanger und Peter Ulrich.
Eine andere Welt ist möglich. Was fehlt, ist ausschliesslich der politische Wille, während eine machtbesessene Elite das Volk hinters Licht führt, sei es aufgrund eigener Blindheit oder aus purem Zynismus.

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